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Joli Rouge (German Edition)

Joli Rouge (German Edition)

Titel: Joli Rouge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Fischer
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es gewesen, der
den Kodex aufgeschrieben hatte. Um nicht wie ein Dilettant
dazustehen, zog er seinen letzten Trumpf mit den Worten: »Du
magst Mitglied der Bruderschaft sein, Weib, aber kein Mann
wird es wagen, dich an Bord seines Schiffes zu holen, denn
das bedeutet, er ist des Todes! So besagt es der Kodex.«
    Pierre konnte nicht sagen, ob sich die Dinge wirklich so
abgespielt hatten, aber die Männer wurden nicht müde zu
berichten, dass der Tod persönlich in den Kreis der
Umstehenden trat und sprach: »Ihr solltet den Kodex besser
kennen, großer Baske! Bestraft wird, wer heimlich eine Frau
an Bord bringt. In diesem Fall bestehe ich darauf, dass sie
ganz offiziell mein Schiff betritt!« Pierre wusste freilich,
dass es nicht der Tod war, der auf der Versammlung
erschienen war, sondern ein Mann, der wegen seines grausam
entstellten Gesichts als Tête-de-Mort bekannt war. Dennoch,
die daraus entstandenen Geschichten und Lieder erzählten
davon, dass die rote Jacquotte den Tod als Gefährten wählte,
um fortan mit ihm über das Meer zu segeln. Pierre schnaubte.
Er wollte sich nicht vorstellen, was es hieß, auf dem
Totenkopf-Schiff unterwegs zu sein. Der Einfluss dunkler
Mächte brachte auch Jacquotte auf ungehörige Einfälle. In
den Tavernen von Port Royal machte sie seit neuestem unter
dem Namen ‚rote Peitsche‘ von sich reden. Hatte er sie nicht
den Umgang mit vernünftigen Waffen gelehrt? Warum musste es
eine Peitsche sein, derer sie sich im Kampf bediente? Die
lange Zeit der Trennung hatte sie ihm entfremdet. Diese
Erkenntnis schmerzte am meisten. In den unbeschwerten Tagen
ihrer Jugend hatte er sie besser gekannt als jeder andere,
inzwischen war sie ihm so fern wie die Kindheit selbst.
Einzig die derben Verse der Schanklieder, die ihre
Heldentaten rühmten, ließen ihn ahnen, dass sie noch
dieselbe war. Er überlegte, ob es ihr abseits der Kämpfe
bisweilen so erging wie ihm. Saß sie auch schlaflos an Deck,
während die Crew um sie herum schnarchte, und betrachtete
mit einem Anflug von Einsamkeit die Weiten des Firmaments?
Prägte sie sich ebenfalls den Lauf des Mondes am dunklen
Nachthimmel ein und fragte sich, warum sie das Leben auf
Tierra Grande gegen das feuchte Dasein auf einem Schiff
eingetauscht hatte? Lauschte sie auf all den Inseln, die sie
erkundete, auf die Sprache der Einheimischen in
sehnsüchtiger Erwartung, vertraute Worte ihrer Mutter
wiederzuerkennen?
    Pierre richtete den Blick auf den Horizont. Je näher sie
seiner Heimat kamen, umso mehr überkamen ihn die
Erinnerungen. Er sah zu den Schiffsjungen empor, die in der
Takelage hingen, und erkannte an ihren Signalen, dass Land
in Sicht war. La Española lag mit Kurs Nord-Nordost vor
ihnen. Er konnte nicht verhindern, dass sein Herz schneller
schlug, während die vertrauten Umrisse der Insel im Dunst
der aufgewühlten See sichtbar wurden. Oft hatte er auf den
Klippen gestanden und die vorbeisegelnden Schiffe
beobachtet. Jetzt war er es selbst, der in der Windward
Passage kreuzte. Viel Zeit war seit seinem Fortgang ins Land
gegangen. Der Anblick der wohlbekannten Küste weckte ihn aus
der Ohnmacht. Remi hatte recht: Er war zu oft betrunken und
schwermütig. In der Absicht, seinen Männern ein sicheres
Leben zu bieten, hatte er von Überfällen zu Wasser und zu
Land Abstand genommen. Er war nicht bereit, die vielen Toten
in Kauf zu nehmen, die sie forderten. Außerdem zermürbte ihn
die sprunghafte Politik der Inseln. Doch obwohl er es zuerst
nicht wahrhaben wollte, rüttelte ihn der Besuch von François
L’Olonnais auf. Zu lange hatte er sich dem Glauben
hingegeben, er könnte alleine etwas bewirken und seine
Ideale über die Bruderschaft stellen.
    Mit einem Mal wusste er, was zu tun war. Seine Heimat war
hier, er fühlte es deutlich. Tierra Grande war der einzige
Ort, für den es sich zu kämpfen lohnte. Die Bukaniere und
Flibustier waren seine Familie und sie verdienten es, dass
er sich wieder zu ihnen bekannte. Selbst wenn diese
Entscheidung bedeutete, dass er seine Männer ins Gefecht
schicken musste. Der zögerliche Pierre Hantot, der mehr
Energie darauf verschwendet hatte, das Volk seiner Mutter zu
finden, als darauf, die Veränderungen in der Welt
wahrzunehmen, musste verschwinden. Die Zeit verlangte nach
Entschlossenheit und einem neuen Namen. Einer spontanen
Eingebung folgend, entschied er, sich zu den Ursprüngen des
Mannes zu bekennen, dessen Einfluss ihm

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