Joli Rouge (German Edition)
Pierre fing das ungeschickte Kerlchen auf und
wirbelte ihn lachend herum. Er hatte nicht zu hoffen gewagt,
dass es Manuel gut ging, er gar am Leben war. Vorsichtig
setzte er den Jungen ab.
»Jawa«, krächzte er, und Pierre nickte ungläubig. Der
cemi
hing um seinen Hals und hatte augenscheinlich gute Dienste
geleistet. Manuel sprang wie ein junger Hund um ihn herum
und brabbelte Unverständliches.
Pierre sah auf und bemerkte ein Paar dunkler Augen. Eine
Frau mit olivbrauner Haut und tiefschwarzen Haaren näherte
sich. Sie war klein gewachsen und erinnerte ihn in ihren
Bewegungen so schmerzlich an seine Mutter, dass er schlucken
musste. Unsicher nickte sie ihm zu und nahm Manuels Hand.
Pierre blieb zurück, während sie den Jungen fortzog. Manuel
schrie, doch die rundliche Frau hatte ihn fest im Griff.
Pierre erwachte aus seiner Betäubung und eilte hinter ihr
her.
»Wer seid Ihr?«, rief er, aber sie reagierte nicht. Je
näher er ihr kam, desto schneller wurden ihre Schritte.
»Ich kenne Manuel.« Er trabte neben ihr her und bemerkte
das verängstigte Gesicht.
»
Datiao
! Ich bin ein Freund«, versuchte er es in der fast
vergessenen Sprache seiner Mutter. Sie sah ihn nicht an,
verlangsamte ihr Tempo und erlaubte ihm, ihr zu folgen.
Pierre heftete sich an ihre Fersen. Durch Aloepflanzen und
gerodete Ebenen folgte er ihr vorbei an sprießenden
Tabakfeldern, zerklüfteten Felsen und Wäldern aus
Stockfischholz. Vor einem kleinen Haus, das beinahe völlig
unter den großflächigen Blättern eines verkrüppelten Baums
verschwand, hielt sie an und bedeutete ihm zu warten. Pierre
betrachtete die Umgebung. Auf der nahen Veranda standen ein
Schaukelstuhl, sowie eine aus Ästen geflochtene Wiege, in
der ein Säugling schlief.
»Pierre Hantot!« Bei der Erwähnung seines Namens horchte
er auf und erkannte den Mann, der aus dem Haus trat.
»Jérôme!« Pierre kniff die Augen zusammen. Mit
Verwunderung stellte er fest, dass sich das Äußere des
Flibustiers im Gegensatz zu seiner Stimme merklich verändert
hatte. Das einst muskulöse Vorbild seiner Jugend war zu
einem drallen Mann mit Doppelkinn geworden, der einen
beachtlichen Wanst vor sich hertrug. Seine Haut glich
gegerbtem Leder, durch das zahlreiche Kämpfe ihre Furchen
gezogen hatten. Vergeblich suchte Pierre nach der
Leichtfüßigkeit vergangener Tage. Er konnte sich ein Grinsen
nicht verkneifen, als er in die freundlichen Augen sah, die
in dem fülligen Gesicht nahezu untergingen.
»Ich weiß, was du denkst.« Jérôme schlug ihm zur Begrüßung
auf die Schulter. Seine Kraft war nicht verflogen, Pierre
ging beinahe in die Knie.
Er rieb sich das Kinn, bevor er Jérômes Aufforderung
folgte und sich neben ihn auf die Holzstufen der Veranda
setzte. Unsicher, was der Flibustier im Gegenzug über sein
verwahrlostes Äußeres denken mochte, stützte er die Arme auf
den Oberschenkeln ab, und gab sich entspannt. Lange Zeit
sprachen sie kein Wort, sondern beobachteten Manuel, der den
Boden nach bunten Steinen absuchte.
»Ich dachte, er sei tot«, sagte Pierre schließlich.
»Aye.« Jérôme zupfte an seinem Ohr. »Er war nahe dran.«
»Ich habe sie davor gewarnt, ihn bei dir zurückzulassen!«
Er wollte ihren Namen nicht aussprechen und hoffte, dass
Jérôme verstand.
»Sie hatte schon immer mehr Mut als Vernunft in sich.«
Dieser neigte den Kopf. »Ganz wie ihr Vater.«
»Émile?«
»Wer sonst?« Jérôme sah ihm in die Augen und Pierre senkte
den Blick.
»Erst Cajaya brachte Glück in Manuels Leben. Wie auch in
meines«, fuhr er fort und schenkte der Frau, die gerade mit
zwei Bechern aus dem Haus trat, einen solch liebevollen
Blick, dass Pierre sich abwenden musste. Ein seltsames
Gefühl überkam ihn. Er beobachtete, wie die Frau sich
niederkniete, um ihnen die Getränke zu reichen. Ihre
kräftigen Arme waren übersät von knotigen Wundmalen. Sie
lächelte ihn scheu an, bevor sie sich wieder erhob und einem
schmächtigen Jungen, der hinter ihr her tapste und Jérôme
wie aus dem Gesicht geschnitten war, die Hand auf den wilden
Haarschopf legte. Der Bub lutschte am Daumen und sah Pierre
aus großen Augen an. Seine Nase lief, und Fliegen krabbelten
ihm über die Mundwinkel.
»
Daca-ababa
«, sagte Jérôme und gab dem Jungen einen
Nasenstüber.
Pierre war erstaunt. »Ich bin Vater«, übersetzte er die
Worte. »Du sprichst die Sprache meiner Mutter?«
»Aye, das tue ich. Anani lehrte sie mir
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