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Joli Rouge (German Edition)

Joli Rouge (German Edition)

Titel: Joli Rouge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Fischer
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den Beitritt zur
Bruderschaft ermöglicht hatte. Antoine Hantot, den man für
seinen Vater hielt. Pierre wusste wenig über ihn, doch wenn
er es richtig in Erinnerung hatte, dann stammte Antoine aus
einer Region des entfernten Frankreichs, die man Picardie
nannte. Er wollte nicht weiter nach seinen Wurzeln suchen,
denn seine Bestimmung hatte ihn längst gefunden. Das Volk
seiner Mutter war verschwunden, soviel hatte er
herausgefunden, aber für das Volk seines vermeintlichen
Vaters, dessen Sprache ihm in die Wiege gelegt worden war,
konnte er kämpfen! Während die steile Küste von La Española
steuerbord an ihm vorüberzog, legte Pierre seinen alten
Namen ab, um die Île de la Tortue als Pierre Le Picard zu
betreten und sich und seiner Mannschaft zu signalisieren,
dass die Jahre des
contrabando
Handels vorüber waren.
    Als sie in den Hafen von Cayone einliefen, überraschte es
Pierre, welch große Anzahl Schiffe in der geschützten Bucht
vor Anker lag. Er hatte die Entwicklung von Port Royal
miterlebt und stellte fest, dass sich Cayone nicht zu
verstecken brauchte. Unzählige Häuser schmiegten sich an die
sanften Hügel um das Hafenviertel und drängten die wuchernde
Natur in den Hintergrund. Das Fort war ausgebaut worden und
richtete seine wuchtigen Kanonen gegen das offene Meer. Um
die zahlreichen Warenlager am Kai tobte das Leben. Karren
verkehrten eifrig zwischen ihnen und dem florierenden
Marktplatz. Aus den Tavernen, die man vom Schiff aus sah,
erscholl derselbe beschwingte Lärm, den Pierre aus Port
Royal kannte. Remi trat an ihn heran und schlug ihm
kameradschaftlich auf die Schulter.
    »Willkommen daheim«, raunte er ihm zu, und seine Stimme
ging im Rasseln der Kette unter, als die
Belle Rouge
ihren
Anker warf. Pierre drehte sich zu seinen Männern um und sah
ein freudiges Leuchten in ihren Gesichtern, das er die
letzten Monate über vermisst hatte. Ihn überkam ein
schlechtes Gewissen, denn zum ersten Mal wurde ihm bewusst,
dass er durch seine eigenmächtigen Entscheidungen die
gesamte Mannschaft von dem Ort ferngehalten hatte, der auch
ihre Heimat war.
    Ungeduldig schielten die Brüder von ihm zur Stadt hinüber.
Um sie nicht länger als nötig von ihr fernzuhalten, teilte
Pierre die erste Schicht der Wachhabenden ein, bevor er sich
gemeinsam mit Remi und den Übrigen in die Riemen legte und
den kurzen Sund zur Anlegestelle überquerte.
    Während einige Männer zurückruderten, um den Rest der
Mannschaft einzusammeln, verharrte Pierre an einem der Stege
und blickte nach La Española, die wegen des Dunstes kaum zu
erkennen war. Er brauchte diesen Moment. Anschließend folgte
er den anderen in das Getümmel. Es war, als wenn die Stadt
von ihm Besitz ergriff. Pierre ließ sich treiben und nahm
das Sprachengewirr und die Vielzahl der Menschen in sich
auf. Der Wind trug ihm den Geruch von Gewürzen und frisch
geschlagenem Holz zu. Er atmete ein und fühlte die Insel in
seinem Inneren. Er war heimgekehrt. Seine Schritte wurden
leichtfüßiger, sein Kopf freier. Wie von einer fremden Macht
getrieben, überquerte er den belebten Markplatz, folgte den
Gassen bergauf und fand sich nach einer Weile auf Höhe der
alten Wehranlage wieder, wo sich ein felsenartiger Überhang
aus einem Meer bunter Blumen erhob. Das Summen unzähliger
Insekten hüllte ihn ein, während er stehen blieb und
versonnen die türkisschillernde Bucht betrachtete, die sich
unter ihm ausbreitete. Die Sonne brachte das Wasser derart
zum Glitzern, dass es unmöglich war, die
Belle Rouge
unter
all den Schiffen auszumachen. Pierre schirmte seine Augen
mit der Hand ab und ließ den Blick über die Umgebung
schweifen. Er hatte vergessen, wie schön die Insel war.
    Als ein glucksendes Lachen an sein Ohr drang, sah er sich
irritiert um. Ein Schmetterling umflatterte ihn. Er
verscheuchte ihn achtlos. Ein erneutes Kichern ließ ihn in
der Bewegung innehalten. Er drehte sich um. Im mannshohen
Gestrüpp zu seiner Linken raschelte es verdächtig, und eine
Wolke gelber Falter erhob sich in die Lüfte. Pierre wollte
nicht glauben, was er sah. Ein übergroßer Kopf spähte durch
das Dickicht. Er ging in die Knie und verengte seine Augen.
    »Manuel?«, flüsterte er fassungslos, und der deformierte
Junge krabbelte auf ihn zu. Er hatte geahnt, dass er in
Cayone mit seiner Vergangenheit konfrontiert werden würde,
doch dass sie ihn so schnell einholte, hatte er nicht
gedacht.
    »Manuel!«

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