Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
offen sprechen. Und nun geht, ihr Menschenkinder!«
Thorne begleitete sie bis in den Keller. Als sie sich verabschiedeten, verbeugte sich Jonathan noch einmal vor ihm.
»Danke, Thorne.«
Der geflügelte Löwe erwiderte die Geste und neigte sein Haupt. Fast glaubte Jonathan, so etwas wie ein verschmitztes Lächeln auf dem Gesicht des Tiers zu sehen.
»Seid wachsam. Es liegt Gefahr in der Luft, ich kann es riechen.«
* * *
Sie kletterten so aus der Luke, wie sie hineingekommen waren. Es tat gut, den kühlen Nachtwind im Gesicht zu spüren. Jetzt, da sie wieder auf der Lichtung im Wald standen, verwandelte sich alles, was innerhalb der Mauern des Hauses geschehen war, in eine traumhafte Erinnerung. Nur der in Samt gewickelte Kiesel in seiner Jackentasche erinnerte Jonathan daran, dass die vergangenen Stunden wirklich geschehen waren. Sie hatten mit einem geflügelten Löwen gesprochen, einem Fabelwesen, das nur in der Vorstellung der Menschen existierte. Sie hatten seltsame Bücher und Kunstwerke gesehen, die unendlich wertvoll waren. Und sie hatten das Herz des Lazarus gefunden, das Riot im Austausch zu Helenas Leben forderte. Jonathan hätte froh sein müssen, immerhin hatte er endlich etwas in der Hand, um mit Riot verhandeln zu können. Doch er empfand keinerlei Triumph. Er wusste nicht mehr, was er empfinden sollte. Eliane schien es ähnlich zu gehen. Sie war plötzlich schweigsam.
»Wir dürfen niemandem davon erzählen«, sagte er leise, als sie mit eingeschalteten Taschenlampen Richtung Waldrand gingen.
Sie nickte, wenn auch enttäuscht. »Das ist das Aufregendste, was mir je passiert ist, und kein Mensch wird es je erfahren.«
Er seufzte. »Ich weiß, wie du dich fühlst. Glaub mir. Bis vor ein paar Tagen war ich nichts weiter als ein gewöhnlicher Junge. Jetzt bin ich allein an einem fremden Ort, rede mit Wesen, die es eigentlich gar nicht geben darf, und weiß bei alldem immer noch nicht, was eigentlich gespielt wird. Die ganze Welt ist verrückt geworden …«
Das Mondlicht schimmerte blass in Elianes Gesicht. Plötzlich wirkte sie traurig. »Du vermisst sie sehr, deine Mutter. Oder?«
Jonathan wandte sich ab und nestelte an seinem Rucksack herum. Sein Hals war plötzlich zugeschnürt.
»Schon okay«, sagte Eliane und blickte in den Nachthimmel. »Weißt du, ich kenne das. Meine Mutter ist gestorben, als ich noch klein war. Ich kann mich kaum an sie erinnern. Den anderen erzähle ich immer, dass sie Entwicklungshilfe in Tansania leistet und regelmäßig Postkarten schickt. Klingt irgendwie spannender als die Wahrheit, oder?«
Verlegen fuhr Jonathan sich mit dem Handrücken über die Stirn und richtete sich wieder auf. Ein blasses Lächeln huschte über sein Gesicht.
Eliane lächelte zurück. »Du bist der Erste, dem ich das verrate. Erzähl es bloß nicht Emir, der macht dann nur blöde Witze darüber. Am besten, du erzählst es überhaupt niemandem!«
»Ein Geheimnis mehr, was macht das schon?«
»Ich wollte dir nur sagen, dass du … du bist nicht allein damit.«
Ihre Worte berührten ihn auf eine komische, schmerzhaft-schöne Art, die er noch nie erlebt hatte. Es war ein Gefühl, so einzigartig und besonders, dass er es festhalten und nicht wieder loslassen wollte. Er räusperte sich und warf seinen Rucksack über die Schulter. »Lass uns nach Hause gehen.«
Sie gähnte herzhaft. »Gute Idee.«
Sie hatte nichts von seiner Verwirrung bemerkt – zum Glück. Er beschloss voranzugehen und suchte mit seiner Taschenlampe nach dem Weg. Der Waldrand lag vor ihnen wie eine Mauer. Er ging darauf zu und fühlte sich etwas leichter. Der Stein in seiner Jackentasche und die Last seiner Sorgen schienen nicht mehr ganz so schwer auf seinen Schultern zu liegen.
Dann bemerkte er die Schatten.
Schnell und lautlos huschten sie zwischen den Bäumen entlang. Zuerst glaubte er, dass seine Sinne ihm einen Streich spielten. Er blieb stehen und lauschte. Verwundert sah Eliane ihn an.
»Alles in Ordnung?«
Jonathan deutete auf eine Stelle im Wald, die ihm verdächtig erschien. Wipfel wiegten sich sanft im Wind, bis es wieder still wurde. Absolut still. Dann sahen sie beide die Gestalten, die flink und leise durch das Unterholz liefen und ebenso schnell wieder verschwanden. Schatten, die sich im Schutz der Bäume bewegten. Intuitiv suchte Jonathan Elianes Hand und hielt sie fest.
»Wir sollten zurück zum Haus«, flüsterte er. »Bei Thorne sind wir sicher.«
Langsam gingen sie rückwärts und ließen ihre
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