Jonathan Strange & Mr. Norrell
hatte er seine Zweifel. Es handelte sich um einen Pfarrer und seine Frau. Er wusste nichts von ihnen, aber er empfand das natürliche Misstrauen, das einem jungen, reichen, ausschweifenden Mann gegenüber Mitgliedern der Geistlichkeit stets befällt. Wer wusste schon, welche Vorstellungen von außergewöhnlicher Tugendhaftigkeit und unnötiger Selbstaufopferung sie ihr tagtäglich nahe brachten?
Die tief stehende Sonne warf lange Schatten. Eis und Frost glitzerten auf den Ästen der Bäume und in den Mulden der Felder. Als er einen Mann sah, der ein Feld pflügte, dachte er an die Familien, die auf seinem Land lebten und deren Wohlergehen Miss Woodhope stets Anlass zur Sorge war. In seinem Kopf entwickelte sich ein idealer Dialog. Und welches sind Ihre Absichten hinsichtlich Ihrer Pächter? , fragte sie. – Absichten? , sagte er. -Ja , sagte sie. Wie gedenken Sie, ihre Last zu erleichtern? Ihr Vater hat ihnen jeden Penny abgenommen. Er hat ihnen das Leben vergällt. – Ich weiß, dass er das getan hat , sagte Strange. Ich habe das Verhalten meines Vaters nie gutgeheißen. – Haben Sie die Pacht bereits heruntergesetzt? , fragte sie. Haben Sie mit dem Gemeinderat gesprochen? Haben Sie daran gedacht, ein Armenhaus für die alten Leute und eine Schule für die Kinder einzurichten?
Es ist wirklich unbillig von ihr, über Pacht, Armenhäuser und eine Schule zu reden, dachte Strange düster. Schließlich ist mein Vater erst letzten Dienstag gestorben.
»Also, das ist komisch!«, sagte Jeremy Johns.
»Hmm?«, murmelte Strange. Er stellte fest, dass sie vor einem weißen Tor angehalten hatten. Neben der Straße stand ein ordentliches, kleines weißes Häuschen. Es schien neu errichtet und hatte sechs Seiten und gotische Fenster.
»Wo ist der Zöllner?«, fragte Jeremy Johns.
»Hmm?«, sagte Strange.
»Das ist ein Häuschen zur Entrichtung des Wegezolls, Sir. Sehen Sie, da ist ein Brett mit den Preisen. Aber es ist niemand hier. Soll ich Sixpence hier lassen?«
»Ja, ja. Wie du meinst.«
Jeremy Johns legte den Wegezoll auf die Türschwelle des Häuschens und öffnete das Tor, so dass Strange und er hindurchkonnten. Hundert Schritte weiter kamen sie in ein Dorf. Es bestand aus einer alten steinernen Kirche, auf die die goldene Wintersonne schien, einer Allee mit uralten verkrüppelten Weißbuchen, die irgendwo hinführte, und ungefähr zwanzig ordentlichen Häusern aus Stein, aus deren Kaminen Rauch aufstieg. Neben der Straße floss ein Bach. Er war gesäumt von trockenen gelben Grasbüscheln, von denen kleine Eiszapfen hingen.
»Wo sind die Leute?«, fragte Jeremy.
»Was?«, sagte Strange. Er schaute sich um und sah zwei kleine Mädchen hinter einem Fenster. »Da«, sagte er.
»Nein, Sir. Das sind Kinder. Ich meinte Erwachsene. Ich sehe keine.«
Das stimmte; kein Erwachsener war zu sehen. Ein paar Hühner liefen herum, eine Katze saß auf dem Stroh in einem alten Handwagen, und auf einer Wiese standen ein paar Pferde, aber nirgendwo waren Leute. Doch kaum hatten Strange und Jeremy Johns das Dorf hinter sich gelassen, wurde der Grund für diesen merkwürdigen Zustand offensichtlich. Ungefähr hundert Schritte hinter dem letzten Haus des Dorfs hatte sich eine Menschenmenge um eine winterliche Hecke versammelt. Sie hatten diverse Waffen bei sich – Hippen, Sicheln, Stöcke und Gewehre. Sie boten einen merkwürdigen Anblick, wirkten sowohl bedrohlich als auch ein bisschen lächerlich. Man hätte denken können, dass das Dorf gegen Weißdornsträucher und Holunderbüsche in den Krieg gezogen war. Die niedrig stehende Wintersonne schien auf die Dörfler, vergoldete ihre Kleider, Waffen und seltsam konzentrierten Mienen. Sie warfen lange blaue Schatten, standen schweigend da, und wenn einer sich bewegte, tat er es mit großem Bedacht, als hätte er Angst, ein Geräusch zu machen.
Als sie vorbeiritten, richteten sich Strange und Jeremy in den Steigbügeln auf und verrenkten sich die Hälse, um sehen zu können, worauf die Dörfler blickten.
»Also, das ist seltsam«, rief Jeremy aus, als sie an ihnen vorbei waren. »Da war nichts.«
»Doch«, sagte Strange, »da lag ein Mann. Es erstaunt mich nicht, dass du ihn nicht gesehen hast. Zuerst habe ich ihn für eine Wurzel gehalten, aber es war eindeutig ein Mann – ein grauer, hagerer, vom Wetter gegerbter Mann –, ein Mann, der dalag wie eine knorrige Wurzel, aber es war ein Mann.«
Die Straße führte sie in einen dunklen winterlichen Wald. Jeremy Johns' Neugier
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