Jonathan Strange & Mr. Norrell
dass ich den Anblick einer jungen, schönen, unschuldigen Dame ertragen kann, die in zartem Alter aus dem Leben gerissen wurde.‹ Sie geht nicht aus dem Haus und empfängt niemanden. Manche Leute glauben, dass die Wiederauferstehung sie stolz gemacht hat und unwillig, sich mit gewöhnlichen Sterblichen abzugeben. Aber ich glaube, die Wahrheit sieht anders aus. Ich glaube, dass der Tod und die Wiederauferstehung in ihr eine Vorliebe für ungewöhnliche Erfahrungen hervorgerufen haben. Halten Sie das nicht auch für möglich? Mir erscheint es nicht ausgeschlossen, dass sie etwas einnimmt, was sie schreckliche Dinge sehen lässt. Ich nehme an, Sie haben keine Anzeichen dafür gesehen? Sie hat nicht an einem Glas mit einer seltsam gefärbten Flüssigkeit genippt? Oder ein gefaltetes Stück Papier hastig in die Tasche gesteckt, als Sie den Raum betraten? Ein Papier, in dem man ein, zwei Teelöffel eines Pulvers aufbewahren kann? Nein? Laudanum füllt man gewöhnlich in kleinen blauen Glasfläschchen ab, die ungefähr zwei oder drei Zoll hoch sind. In Fällen der Sucht glauben die Familien immer, die Wahrheit verbergen zu können, aber da täuschen sie sich. Letztlich kommt es immer ans Tageslicht.« Er lachte affektiert auf. »Mir jedenfalls entgeht nichts.«
Arabella entzog ihm höflich den Arm und entschuldigte sich. Sie könne ihm die gewünschte Auskunft nicht geben. Sie wisse nichts von kleinen Fläschchen oder Pulvern.
Sie kehrte mit wesentlich unangenehmeren Gefühlen in das Konzert zurück, als sie es verlassen hatte.
»Dieser widerliche, ekelhafte kleine Mann.«
KAPITEL 28
Die Bibliothek des Herzogs von Roxburghe
November 1810 bis Januar 1811
Gegen Ende des Jahres 1810 konnte die Lage der Regierung nicht schlimmer sein. Rund um die Uhr erhielten die Minister schlechte Nachrichten. Die Franzosen waren überall siegreich; die anderen großen europäischen Mächte, die sich einst mit Britannien zusammengetan hatten, um den Kaiser Napoleon Buonaparte zu bekämpfen (und die in der Folge von ihm besiegt worden waren), sahen nun ihren Fehler ein und verbündeten sich mit ihm. Zu Hause lag der Handel wegen des Krieges danieder, und in allen Teilen des Königreichs gingen Männer Bankrott; die Ernte fiel zwei Jahre hintereinander schlecht aus. Die jüngste Tochter des Königs wurde krank und starb, und der König wurde vor Schmerz wahnsinnig.
Der Krieg machte jede Annehmlichkeit der Gegenwart zunichte und warf einen düsteren Schatten über die Zukunft. Soldaten, Kaufleute, Politiker und Bauern – sie alle verfluchten die Stunde ihrer Geburt, nur Zauberer (ein wahrhaft widerspenstiger Menschenschlag) waren vom Verlauf der Dinge begeistert. Seit Jahrhunderten hatte ihre Kunst kein so hohes Ansehen mehr genossen. Jeder Versuch, den Krieg zu gewinnen, hatte in einer Katastrophe geendet, und Britannien schien nun seine größten Hoffnungen in die Zauberei zu setzen. In sämtlichen Abteilungen des Kriegsministeriums und der Admiralität saßen Herren, die Mr. Norrell und Mr. Strange unbedingt in ihre Dienste nehmen wollten. In Mr. Norrells Haus am Hanover Square herrschte bisweilen eine solche Geschäftigkeit, dass Besucher bis drei oder vier Uhr morgens warten mussten, bis Mr. Strange und Mr. Norrell Zeit hatten, sich um sie zu kümmern. Dies war erträglich, solange sich mehrere Herren in Mr. Norrells Salon befanden, aber wehe dem, der der Letzte war, denn es ist nicht besonders angenehm, mitten in der Nacht vor einer verschlossenen Tür warten zu müssen und zu wissen, dass dahinter zwei Zauberer zaubern. 58
Eine Geschichte, die zu dieser Zeit die Runde machte (man hörte sie auf Schritt und Tritt), war die Erzählung über die missratenen Versuche des Kaisers Napoleon Buonaparte, selbst einen Zauberer zu finden. Wie Lord Liverpools Spione 59 berichteten, war der Kaiser so neidisch auf den Erfolg der englischen Zauberer, dass er Offiziere durchs gesamte Reich schickte; sie sollten nach einer oder mehreren Personen mit zauberischen Fähigkeiten suchen. Bisher hatten sie jedoch lediglich einen Holländer namens Witloof ausfindig gemacht, der einen Zauberschrank besaß. Der Schrank war in einem Landauer nach Paris gebracht worden. In Versailles hatte Witloof dem Kaiser versprochen, dass er im Schrank eine Antwort auf jede Frage finden könne.
Den Spionen zufolge hatte Buonaparte dem Schrank die folgenden drei Fragen gestellt: »Wird das Kind, das die Kaiserin erwartet, ein Junge sein?«; »Wird der russische Zar noch
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