Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
Vom Netzwerk:
denn zwei Herren sahen ihn auf ihrem Weg zu St. George am Hanover Square, wie er auf den Stufen zum Haus stand; sie sahen, wie die Tür geöffnet wurde; sie sahen, wie Strange mit einem Dienstboten sprach; und sie sahen, wie er sofort eingelassen wurde, als habe man ihn seit langem erwartet. Die beiden Herren setzten ihren Weg zur Kirche fort, wo sie umgehend ihren Freunden in den benachbarten Kirchenbänken von ihrer Beobachtung berichteten. Fünf Minuten später erschien ein hagerer, fromm wirkender junger Mann in der Kirche. Während er vorgab, ein Gebet zu sprechen, flüsterte er, dass er soeben mit jemandem geredet habe, der sich aus dem Fenster im ersten Stock von Mr. Norrells Nachbarhaus gelehnt hatte, und diese Person glaubte hören zu können, wie Mr. Strange seinem Meister tobend eine Strafpredigt hielt. Zwei Minuten später verbreitete sich in der Kirche das Gerücht, beide Zauberer hätten einander mit einer Art zauberischer Exkommunizierung gedroht. Der Gottesdienst begann, und zahlreiche Gemeindemitglieder blickten sehnsüchtig zu den Fenstern, als fragten sie sich, warum diese Öffnungen in Kirchenbauten immer so weit oben angebracht waren. Von der Orgel begleitet, wurde ein Lied gesungen, und einige Leute sagten später, sie hätten hinter der Musik ein lautes Donnergrollen gehört – ein sicheres Zeichen für zauberische Turbulenzen. Doch andere Leute waren der Meinung, dass sie es sich eingebildet hätten.
    All das hätte die beiden Zauberer, die in diesem Augenblick schweigend in Mr. Norrells Bibliothek standen und sich argwöhnisch anblickten, überaus erstaunt. Strange, der seinen Lehrer seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen hatte, war über dessen Anblick erschrocken. Sein Gesicht war eingefallen, sein Körper geschrumpft – er sah um zehn Jahre gealtert aus.
    »Sollen wir uns setzen, Sir?«, sagte Strange. Er ging zu einem Sessel, und Mr. Norrell wich vor der plötzlichen Bewegung zurück. Fast wirkte es, als erwarte er Schläge von Strange. Im nächsten Moment hatte er sich jedoch so weit gefangen, dass er sich setzte.
    Strange fühlte sich nicht viel wohler in seiner Haut. Während der letzten paar Tage hatte er sich immer wieder gefragt, ob es richtig gewesen war, die Rezension zu veröffentlichen, und wiederholt war er zu dem Schluss gekommen, dass es richtig gewesen war. Er hatte beschlossen, die Haltung würdiger moralischer Überlegenheit einzunehmen, gemildert von einem bescheidenen Maß an Abbitte. Doch als er nun wieder in Mr. Norrells Bibliothek saß, fand er es nicht einfach, seinem Lehrer in die Augen zu sehen. Sein Blick schweifte über eine merkwürdige Reihe von Gegenständen – eine kleine Porzellanfigur, die Dr. Martin Pale darstellte; der Türknauf; sein eigener Daumennagel; Mr. Norrells linker Schuh.
    Mr. Norrell hingegen hatte seinen Blick fest auf Stranges Gesicht gerichtet.
    Nach mehreren Augenblicken des Schweigens sprachen beide Männer gleichzeitig.
    »Nach all Ihrer Freundlichkeit mir gegenüber...«, hob Strange an.
    »Sie glauben, ich bin wütend«, hob Mr. Norrell an.
    Beide hielten inne, dann bedeutete Strange Mr. Norrell, fortzufahren.
    »Sie glauben, ich bin wütend«, sagte Mr. Norrell, »doch das stimmt nicht. Sie glauben, ich weiß nicht, warum Sie getan haben, was Sie getan haben, aber das stimmt nicht. Sie glauben, Sie haben Ihr ganzes Herz in diesen Text gegossen und jeder in England versteht Sie nun. Was verstehen die schon? Nichts. Ich verstand Sie, bevor Sie ein Wort geschrieben haben.« Er hielt inne, und in seinem Gesicht arbeitete es, als ringe er mit Worten, die ganz tief in seinem Innern lagen. »Was Sie geschrieben haben, haben Sie für mich geschrieben. Für mich allein.«
    Strange öffnete den Mund, um gegen diesen überraschenden Schluss zu protestieren. Doch nach kurzer Betrachtung wurde ihm klar, dass es vermutlich stimmte. Er schwieg.
    Mr. Norrell sprach weiter. »Glauben Sie wirklich, ich hätte nie dieselbe... dieselbe Sehnsucht verspürt wie Sie? Es ist John Uskglass' Zauberei, die wir betreiben . Natürlich ist sie das. Was soll sie sonst sein? Ich sage Ihnen, es gab Zeiten, als ich jung war, da hätte ich alles getan, alles auf mich genommen, um ihn zu finden und mich ihm zu Füßen zu werfen. Ich versuchte, ihn zu beschwören. Ha! Das war die Tat eines sehr jungen, sehr törichten Mannes – einen König wie einen Diener zu behandeln und ihn herbeizuzitieren, damit er mit mir spricht. Ich betrachte es als einen der glücklichsten

Weitere Kostenlose Bücher