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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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hatte. Daraus schloss sie selbstverständlich, dass er betrunken gewesen war. Das war zwar höchst tadelnswert, aber nicht ungewöhnlich bei Herren und kein Grund, sie in eine andere Stadt zu verbannen.
    »Schließlich und endlich, Lancelot«, sagte sie, »habe ich dich auch schon betrunken gesehen. Damals, als wir bei Mr. Sixsmith gegessen haben und du darauf bestanden hast, allen Hühnern gute Nacht zu sagen. Du bist in den Hof hinausgegangen und hast sie eins nach dem anderen aus dem Hühnerstall gezerrt, und sie sind alle entkommen und herumgerannt, und die Hälfte davon hat der Fuchs gefressen. Nie habe ich Antoinette so wütend erlebt.« (Antoinette war die verstorbene Frau des Doktors.)
    Es war eine alte und sehr würdelose Geschichte. Dr. Greysteel wurde ärgerlich. »Um Gottes willen, Louisa! Ich bin Arzt, ich erkenne Trunkenheit, wenn ich sie sehe.«
    Frank wurde hereingeholt. Er erinnerte sich wesentlich genauer an das, was Strange gesagt hatte. Er beschwor Visionen von Flora herauf, eingeschlossen für alle Ewigkeit in einem Gefängnis. Das reichte, um ihre Tante in Angst und Schrecken zu versetzen. Sofort wollte auch Tante Greysteel Flora aus Venedig fortbringen. Sie bestand jedoch darauf – und das war Dr. Greysteel und Frank nie in den Sinn gekommen –, sie bestand darauf, Flora die Wahrheit zu sagen.
    Es verursachte Flora großen Schmerz, als sie hörte, dass Strange den Verstand verloren hatte. Zuerst glaubte sie, dass sie sich täuschten, und als sie sie davon überzeugt hatten, dass es sehr wohl stimmen konnte, sah sie noch immer keine Notwendigkeit, Venedig zu verlassen; sie war sicher, dass er ihr nichts tun würde. Aber sie verstand, dass ihr Vater und ihre Tante anderer Ansicht waren und sich nicht beruhigen würden, bis sie wegging. Überaus widerwillig stimmte sie zu.
    Kurz nach der Abreise der beiden Damen saß Dr. Greysteel in einem der kalten Marmorräume des Palazzo. Er tröstete sich mit einem Glas Branntwein und versuchte, den Mut aufzubringen und zu Strange zu gehen, als Frank den Raum betrat und etwas von einem schwarzen Turm sagte.
    »Was?«, sagte Dr. Greysteel. Er war nicht in der Stimmung, Franks Exzentrizitäten zu enträtseln.
    »Kommen Sie zum Fenster, und ich werde es Ihnen zeigen, Sir.«
    Dr. Greysteel stand auf und ging zum Fenster.
    Etwas stand in der Mitte Venedigs. Am besten zu beschreiben war es als schwarzer Turm von unwahrscheinlichen Ausmaßen. Er schien mehrere Morgen Grund einzunehmen. Er ragte aus der Stadt empor in den Himmel, seine Spitze war nicht zu sehen. Aus der Entfernung wirkte seine Farbe einheitlich schwarz, die Oberfläche schien glatt. Aber in manchen Augenblicken war er nahezu durchscheinend, als wäre er aus schwarzem Rauch. Man sah kurz Gebäude dahinter – oder möglicherweise sogar darin .
    Es war das geheimnisvollste Ding, das Dr. Greysteel je erblickt hatte. »Woher kann es gekommen sein, Frank? Und was ist mit den Häusern, die zuvor dort standen?«
    Bevor eine Antwort auf diese oder andere Fragen gefunden werden konnte, wurde laut und amtlich an die Tür geklopft. Frank ging, um zu öffnen. Kurz darauf kehrte er mit einer kleinen Gruppe Leute zurück, die Dr. Greysteel allesamt unbekannt waren. Zwei von ihnen waren Priester, drei oder vier waren junge Männer mit militärischem Auftreten, ihre farbenfrohen Uniformen mit einer extravaganten Masse von goldenen Litzen und Tressen besetzt. Der Hübscheste der jungen Männer trat vor. Seine Uniform war die prächtigste von allen, und er hatte einen großen gelben Schnurrbart. Er erklärte, er sei Oberst Wenzel von Ottenfeld, Sekretär des österreichischen Statthalters der Stadt. Er stellte seine Begleiter vor; die Offiziere waren wie er Österreicher, die Priester jedoch waren Venezianer. Dies reichte aus, Dr. Greysteel in Erstaunen zu versetzen; die Venezianer hassten die Österreicher, und Angehörige der beiden Volksgruppen wurden nur selten zusammen gesehen.
    »Sie sind der Sir Doktor?«, fragte Oberst von Ottenfeld. »Der Freund des Hexenmeisters des großen Vellinton?«
    Dr. Greysteel bejahte.
    »Ah! Sir Doktor. Wir sind Bettler zu Ihren Füßen.« Von Ottenfeld setzte eine melancholische Miene auf, die durch seinen langen, herunterhängenden Schnurrbart noch melancholischer wurde.
    Dr. Greysteel brachte sein Erstaunen zum Ausdruck.
    »Wir kommen heute. Wir bitten um Ihre...« Von Ottenfeld runzelte die Stirn und schnalzte mit den Fingern. »Vermittlung. Wir bitten um Ihre Vermittlung. Wie

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