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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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Fingerabdrücke hinterließ. Auf den ersten Blick besaß er, so schien es, die angemessene Ausstattung eines Gecken – nämlich eine lange Uhrenkette, eine Reihe von Uhrendeckeln und eine Lorgnette; doch bei genauerem Hinsehen stellte sich heraus, dass es keine Uhrenkette war, sondern nur ein geschmackloses Goldband, dass er sorgfältig drapiert hatte, so dass es aus seinem Knopfloch hing. Genauso wenig waren die Uhrendeckel das, was sie zu sein vorgaben; es handelte sich um eine Reihe von Blechherzen, Blechkreuzen und Blechtalismanen der Jungfrau – von der Art, wie sie italienische Hausierer für einen oder zwei Franken verkauften. Am besten aber war die Lorgnette – alle Gecken und Dandys lieben Lorgnetten. Sie benutzen sie, um jene, die nicht so modisch angezogen sind wie sie, herablassend zu betrachten. Vermutlich fühlte sich dieser merkwürdige kleine Mann ohne ein solches Gerät nackt, daher hatte er sich an seiner statt einen großen Esslöffel umgehängt.
    Dr. Greysteel prägte sich diese exzentrischen Details genau ein, damit er später vielleicht einen Freund damit amüsieren konnte. Dann fiel ihm ein, dass sein einziger Freund in der Stadt Strange war, und Strange machte sich aus solchen Dingen nichts mehr.
    Plötzlich verließ der Mann den Hauseingang und lief auf Dr. Greysteel zu. Er legte den Kopf auf die Seite und sagte auf Englisch: »Sie sind Dr. Greyfield?«
    Dr. Greysteel war sehr überrascht, von diesem Mann angesprochen zu werden, und antwortete nicht sofort.
    »Sie sind Dr. Greyfield? Der Freund des Zauberers?«
    »Ja«, sagte Dr. Greysteel verwundert. »Aber ich heiße Greysteel, Sir, nicht Greyfield.«
    »Ich bitte tausendmal um Verzeihung, lieber Doktor. Irgendeine dumme Person hat mir Ihren Namen falsch genannt. Wie schrecklich demütigend für mich. Sie sind, so viel kann ich Ihnen versichern, die letzte Person auf der Welt, die ich beleidigen möchte. Mein Respekt vor dem Berufsstand der Ärzte ist grenzenlos! Und da stehen Sie nun mit all Ihrer Ehre, die von Breiumschlägen und Pulsmessen herrührt, und fragen sich: ›Wer ist diese merkwürdige Gestalt, die es wagt, mich auf der Straße anzusprechen, als wäre ich irgendeine gewöhnliche Person?‹ Erlauben Sie mir, mich vorzustellen. Ich komme aus London – von Mr. Stranges Freunden, die, nachdem sie erfahren haben, wie sehr seine Sinne verwirrt sind, in dermaßen tiefe Sorgen verfielen, dass sie so frei waren, mich hierher zu schicken, damit ich herausfinde, wie es um ihn steht!«
    »Hmm«, sagte Dr. Greysteel. »Offen gestanden, hätte ich mir gewünscht, dass sie etwas besorgter wären. Ich schrieb ihnen zum ersten Mal Anfang Dezember – das war vor sechs Wochen, Sir! Vor sechs Wochen!«
    »Aber ja! Erschreckend, nicht wahr? Sie sind die faulsten Geschöpfe der Welt. Sie denken an nichts anderes als an ihren eigenen Vorteil. Während Sie hier in Venedig bleiben – des Zauberers einziger wahrer Freund!« Er hielt inne. »So ist es doch, oder?«, fragte er mit veränderter Stimme. »Außer Ihnen hat er keine Freunde?«
    »Nun, da gibt es Lord Byron...«, hob Dr. Greysteel an.
    »Byron!«, rief der kleine Mann aus. »Wirklich? Du liebe Zeit! Wahnsinnig und ein Freund Lord Byrons!« Er klang, als wüsste er nicht, was schlimmer war. »Ach! Mein lieber Dr. Greysteel. Ich habe tausend Fragen an Sie. Gibt es einen Ort, an dem wir uns ungestört unterhalten können?«
    Dr. Greysteels Haustür war direkt hinter ihm, aber seine Abneigung gegen den kleinen Mann wuchs mit jedem Augenblick. So sehr ihm daran gelegen war, Strange und Stranges Freunden behilflich zu sein, so verspürte er doch nicht das Bedürfnis, den Kerl in sein Haus einzuladen. Also murmelte er etwas davon, dass sein Diener gerade jetzt in der Stadt sei, um eine Besorgung zu machen. Ein paar Straßen weiter gebe es ein kleines Kaffeehaus; warum gingen sie nicht dorthin?
    Der kleine Mann lächelte zustimmend übers ganze Gesicht.
    Sie machten sich auf zum Kaffeehaus. Ihr Weg führte an einem Kanal entlang. Der kleine Mann ging zu Dr. Greysteels Rechten, direkt am Wasser. Er sprach, und Dr. Greysteel schaute sich um. Die Augen des Doktors fielen zufällig auf den Kanal, und er sah, wie ohne jede Vorwarnung eine Welle auftauchte – eine einzige Welle. Das für sich war bereits merkwürdig genug, doch was nun folgte, war noch überraschender. Die Welle stürzte in ihre Richtung und brach am Steinufer des Kanals. Währenddessen änderte sie die Form; wässrige Finger

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