Jonathan Strange & Mr. Norrell
Sir?«, fragte Lucas. »Warum haben Sie zugelassen, dass er Sie mit dem Messer verletzt?«
»Mach dir deswegen keine Sorgen, Junge. Es wird keine Folgen haben.«
»Ich habe Verbandszeug dabei. Lassen Sie mich Ihnen das Gesicht verbinden.«
»Lucas, heute Nacht brauche ich meinen Verstand, und wenn mein Kopf im Verband steckt, kann ich nicht denken.«
»Aber wenn die Wunde nicht zuwächst, wird eine furchtbare Narbe bleiben.«
»Na und? Keiner wird sich beschweren, wenn ich weniger schön bin als früher. Gib mir nur ein anderes Tuch, um die Blutung zu stillen. Das hier ist schon ganz durchgeweicht. Nun, Männer, wenn Strange kommt...« Er seufzte. »Ich weiß nicht, was ich euch sagen soll. Ich habe keinen Rat. Aber wenn ihr die Möglichkeit habt, ihnen zu helfen, dann tut es.«
»Was?«, fragte ein Diener. »Wir sollen Mr. Norrell und Mr. Lascelles helfen?«
»Nein, du Dummkopf. Ihr sollt Mr. Norrell und Mr. Strange helfen. Lucas, richte Lucy, Hannah und Dido mein Lebewohl aus. Ich wünsche ihnen alles Gute – und anständige, gehorsame Ehemänner, wenn sie welche wollen.« (Das waren die drei Hausmädchen, die Childermass besonders gern mochte.)
Davey grinste. »Stehen Sie nicht zur Verfügung, Sir?«
Childermass lachte – dann zuckte er vor Schmerz zusammen. »Nun, für Hannah vielleicht«, sagte er. »Lebt wohl, Männer.«
Er schüttelte allen die Hand und war ein wenig verblüfft, als Davey, der trotz seiner Kraft und seiner Größe so rührselig wie ein Schulmädchen war, darauf bestand, ihn zu umarmen, und sogar Tränen vergoss. Lucas gab ihm als Abschiedsgeschenk eine Flasche von Mr. Norrells bestem Bordeauxwein.
Childermass führte Brewer aus dem Stall. Der Mond war aufgegangen. Er hatte keine Schwierigkeiten, dem Pfad zu folgen, der aus dem Garten in den Park führte. Er überquerte gerade die Brücke, als die plötzliche Erkenntnis über ihn kam, dass gezaubert wurde. Es war, als erklängen tausend Trompeten oder als erstrahlte in der Dunkelheit ein schimmerndes Licht. Die Welt war völlig anders als im Moment zuvor, doch worin der Unterschied bestand, konnte er zunächst nicht benennen. Er blickte sich um.
Direkt über dem Park und dem Haus war ein Flecken Nachthimmel eingeschoben, der nicht dorthin gehörte. Die Sternbilder waren auseinander gerissen. Neue Sterne hingen dort – Sterne, die Childermass noch nie gesehen hatte. Es waren vermutlich die Sterne von Stranges immerwährender Dunkelheit.
Er warf einen letzten Blick auf Hurtfew Abbey und galoppierte davon.
Sämtliche Uhren begannen im selben Augenblick zu schlagen. Das allein war außergewöhnlich genug. Seit fünfzehn Jahren hatte Lucas versucht, die Uhren in Hurtfew zu veranlassen, die Stunde gleichzeitig zu schlagen, und bis zu diesem Augenblick hatten sie es nie getan. Doch wie viel Uhr es sein mochte, war schwer zu sagen. Die Uhren schlugen und schlugen, weit öfter als zwölfmal, und gaben die Zeit einer seltsamen neuen Ära an.
»Was um alles in der Welt ist das für ein abscheuliches Geräusch?«, fragte Lascelles.
Mr. Norrell stand auf. Er rieb die Hände aneinander – bei ihm immer ein Zeichen großer Nervosität und Anspannung. »Strange ist hier«, sagte er rasch. Er sprach ein Wort. Die Uhren verstummten.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Mr. Norrell und Mr. Lascelles wandten sich um, blickten mit alarmierten Gesichtern dorthin, erwarteten, Strange da stehen zu sehen. Doch es waren nur Lucas und zwei weitere Dienstboten.
»Mr. Norrell«, begann Lucas. »Ich glaube ...«
»Ja, ja! Ich weiß! Geh in den Lagerraum am Ende der Küche. In der Truhe unter dem Fenster findest du Bleiketten, Bleischlösser und Bleischlüssel. Bring sie her! Schnell!«
»Und ich werde ein Paar Pistolen holen«, erklärte Lascelles.
»Sie werden nichts nützen«, sagte Mr. Norrell.
»Oh! Sie würden sich wundern, wie viele Probleme ein Paar Pistolen lösen können!«
Sie kehrten in weniger als fünf Minuten zurück. Lucas, der widerwillig und unglücklich wirkte und die Ketten und Schlösser hielt, Lascelles mit seinen Pistolen und vier oder fünf weitere Diener.
»Wo, glauben Sie, ist er?«, fragte Lascelles.
»In der Bibliothek. Wo sonst?«, sagte Mr. Norrell. »Kommen Sie.«
Sie gingen vom Salon ins Speisezimmer. Von hier aus betraten sie einen kurzen Korridor, in dem eine Ebenholzanrichte mit Einlegearbeiten, die Marmorstatue eines Zentauren und seines Fohlens stand, sowie eine Gemälde von Salome hing, die den Kopf des
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