Jonathan Strange & Mr. Norrell
versucht?«
»Ja.«
»Oh.« Strange dachte kurz nach. »Wie lautete die komische Anrede, die Sie vorhin erwähnten? Wie er sich selbst genannt hat. Der namenlose Irgendwas?«
»Der namenlose Sklave?«
»Ja. Versuchen Sie es damit.«
Norrell blickte zweifelnd drein, aber er wandte den Zauber auf den namenlosen Sklaven an. Sofort tauchte der bläuliche Lichtfleck auf. Er machte weiter, und es stellte sich heraus, dass sich der namenlose Sklave in Yorkshire aufhielt – genau da, wo John Uskglass zuvor gewesen war.
»Na also!«, rief Strange triumphierend. »Unsere Befürchtungen waren unbegründet. Er ist noch da.«
»Aber ich glaube nicht, dass es dieselbe Person ist«, sagte Mr. Norrell. »Irgendwie sieht es anders aus.«
»Mr. Norrell, zügeln Sie Ihre Phantasie, ich bitte Sie. Wer sollte es sonst sein? Wie viele namenlose Sklaven kann es in Yorkshire geben?«
Das war eine so einleuchtende Frage, dass Mr. Norrell keine weiteren Einwände erhob.
»Und jetzt der Zauberspruch«, sagte Strange. Er nahm das Buch und begann, ihn zu rezitieren. Er wandte sich an die Bäume Englands, die Berge Englands, das Sonnenlicht, das Wasser, die Vögel, die Erde und die Steine. Er wandte sich an sie alle, an einen nach dem anderen, und bat sie, sich in die Hände eines namenlosen Sklaven zu geben.
Stephen und der Herr erreichten die Packpferdbrücke, die nach Starecross hineinführte.
Im Dorf war es still; kaum jemand war zu sehen. In einer Tür goss ein Mädchen in einem gemusterten Kleid und einem Wollschal Milch aus Holzeimern in Käsefässchen. Ein Mann in Gamaschen und mit einem breitkrempigen Hut kam neben einem Haus die Straße entlang; neben ihm trottete ein Hund. Als der Mann und der Hund um die Ecke bogen, grüßten sich das Mädchen und der Mann lächelnd, und der Hund bellte freudig. Es war eine einfache häusliche Szene, die Stephen üblicherweise erfreut hätte, aber jetzt empfand er nur ein Schaudern; wenn der Mann die Hand ausgestreckt und das Mädchen geschlagen – oder erwürgt – hätte, er hätte sich nicht gewundert.
Der Herr war bereits auf der Packpferdbrücke. Stephen folgte ihm, und ...
... alles veränderte sich. Die Sonne kam hinter einer Wolke hervor; sie schien durch die winterlichen Bäume; Hunderte kleiner heller Sonnenflecken tauchten auf. Die Welt wurde zu einem Puzzlespiel oder Labyrinth. Sie erinnerte an den Aberglauben, dass man nicht auf die Ritzen zwischen Pflastersteinen treten darf – oder an den seltsamen Zauber namens Doncaster Squares, der auf einer Art Schachbrett vollführt wird. Plötzlich hatte alles eine Bedeutung. Stephen traute sich kaum, noch einen Schritt zu gehen. Wenn er es täte, wenn er zum Beispiel auf diesen Schatten trat oder jenen Lichtfleck, dann könnte sich die Welt für immer verändern.
Einen Moment!, dachte er verzweifelt. Ich bin nicht bereit dafür. Ich habe nicht nachgedacht. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Aber es war zu spät. Er blickte auf.
Die kahlen Äste vor dem Himmel waren eine Schrift, und obwohl er es nicht wollte, konnte er sie lesen. Er sah, dass es eine Frage war, die die Bäume ihm stellten .
»Ja«, antwortete er ihnen.
Ihr Alter und ihr Wissen gehörten ihm.
Jenseits der Bäume erhob sich eine hohe, schneebedeckte Bergkette, wie eine auf den Himmel gezeichnete Linie. Ihr Schatten fiel blau in den Schnee davor. Sie verkörperte alle Arten von Kälte und Härte. Sie grüßte Stephen als einen lang vermissten König. Auf ein Wort von Stephen hin würde sie herabstürzen und seine Feinde zermalmen. Sie stellte Stephen eine Frage .
»Ja«, sagte er zu ihr.
Ihre Verachtung und Kraft ging auf ihn über.
Der schwarze Bach unter der Packpferdbrücke sang ihm seine Frage vor .
»Ja«, sagte er.
Die Erde sagte ...
»Ja«, sagte er.
Die Saatkrähen, Elstern, Rotdrosseln und Buchfinken sagten ...
»Ja«, sagte er.
Die Steine sagten ...
»Ja«, sagte Stephen. »Ja. Ja. Ja.«
Jetzt hielt er ganz England in seiner schwarzen Hand. Alle Engländer waren seiner Gnade ausgeliefert. Jetzt konnte er jede Beleidigung rächen. Jetzt konnte er jede Kränkung seiner armen Mutter tausendfach vergelten. Ganz England konnte er in einem Augenblick in Schutt und Asche legen. Er konnte die Häuser über ihren Bewohnern einstürzen lassen. Er konnte Bergen befehlen, umzufallen, und Tälern, ihre Lippen zu schließen. Er konnte Zentauren rufen, Sterne auslöschen, den Mond vom Himmel stehlen. Jetzt. Jetzt. Jetzt.
Jetzt kamen Lady Pole und Mr.
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