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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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herausstellen, dass Mr. Wyvern die letzten hundert Jahre geschlafen hätte. Nun, das kann mir einerlei sein, dachte er, solange man nicht von mir erwartet, dass ich ihn küsse.
    Als über der Hügelkette ein trauriges Morgengrauen heraufzog, stieß er auf eine heruntergekommene Kate, der man nicht so sehr das Herz als vielmehr das Genick gebrochen hatte. Die Kaminmauer wölbte sich in großem Bogen nach außen, und auf ihr saß windschief der Kamin. Eine Lawine aus Dachziegeln hatte Löcher gerissen, durch die das Gebälk wie Rippen zu sehen war. Holundersträucher und Dornenbüsche füllten das Innere und hatten mit ihrem kräftigen Wachstum sämtliche Fenster zerbrochen und die Türblätter aus den Rahmen gesprengt.
    Der neue Diener stand eine Weile im Regen und dachte über diesen trübseligen Anblick nach. Als er aufblickte, sah er jemanden den Hügel hinab- und auf ihn zuschreiten; eine Märchengestalt mit einem großen und eigentümlichen Hut auf dem Kopf und einem Stab in der Hand. Als die Gestalt näher kam, entpuppte sie sich als vernünftig aussehender Mann, ein Freibauer, dessen phantastisch anmutende Erscheinung nur dem festen Tuch zu verdanken war, das er als Schutz gegen den Regen um seinen Kopf geschlagen hatte.
    Er grüßte den neuen Diener so: »Mann! Was haben Sie denn angestellt? Sie sind ja über und über mit Blut verschmiert, und Ihre gute Kleidung ist zerrissen.«
    Der neue Diener blickte an sich herab und stellte fest, dass der Mann Recht hatte. Er erklärte, dass der Weg zugewachsen und voller Dornen war.
    Der Bauer blickte ihn erstaunt an. »Aber es gibt eine gute Straße«, rief er aus, »kaum eine Viertelmeile westlich. Sie hätten nur halb so lange gebraucht. Wer um alles in der Welt hat Sie auf dem alten Weg hierher geschickt?«
    Der neue Diener antwortete nicht und fragte stattdessen, ob der Bauer wisse, wo Mr. Wyvern von der Farm des Gebrochenen Herzens zu finden sei?
    »Das hier ist Wyverns Kate, aber er ist seit fünf Jahren tot. Farm des Gebrochenen Herzens, sagen Sie? Wer hat Ihnen erzählt, dass sie so heißt? Jemand hat Ihnen einen Streich gespielt. Der alte Weg, die Farm des Gebrochenen Herzens! Aber dieser Name ist vermutlich genauso gut wie jeder andere auch; Wyvern hat es hier tatsächlich das Herz gebrochen. Der arme Kerl hatte das Pech, etwas Land zu besitzen, mit dem ein Herr im Tal geliebäugelt hatte, und als Wyvern es nicht verkaufen wollte, schickte der Herr mitten in der Nacht ein paar Schläger her, die sämtliche Bohnen und Karotten und Kohlköpfe umgruben, die Wyvern gepflanzt hatte, und als auch das nichts half, überzog er ihn mit Prozessen – der arme Wyvern hatte keine Ahnung vom Gesetz und verstand überhaupt nichts mehr.«
    Der neue Diener dachte einen Augenblick lang darüber nach. »Ich glaube«, sagte er schließlich, »ich kann Ihnen den Namen dieses Herrn nennen.«
    »Das kann jeder«, sagte der Bauer. Er betrachtete den neuen Diener etwas genauer. »Mann«, sagte er. »Sie sind so weiß wie Milchpudding und zittern wie Espenlaub!«
    »Mir ist kalt«, sagte der neue Diener.
    Der Bauer (der sich als Bullbridge vorstellte) drängte den neuen Diener, zu ihm nach Hause an den Kamin mitzukommen, um sich aufzuwärmen und etwas zu essen und zu trinken und sich vielleicht ein Weilchen hinzulegen. Der neue Diener bedankte sich, sagte aber, ihm sei kalt, sonst nichts.
    Daraufhin führte Bullbridge den neuen Diener zurück zur Straße (auf einem Pfad ohne Dornen), und der neue Diener machte sich auf den Weg zurück zu Mr. Stranges Haus.
    Eine freudlose weiße Sonne ging an einem freudlosen weißen Himmel auf – das Ganze glich einer Allegorie auf die Hoffnungslosigkeit; und während er so dahinritt, kam es dem neuen Diener so vor, als wäre die Sonne der arme Wyvern und der Himmel wäre die Hölle und als wäre Wyvern von Mr. Strange dorthin verbannt worden, um für immer zu schmoren.
    Bei seiner Rückkehr scharten sich die anderen Dienstboten um ihn. »Ah, Junge«, rief der Butler besorgt. »Wie siehst du denn aus? War es der Sherry, Jeremy? Hast du ihn geärgert, als du ihm den Sherry gebracht hast?«
    Der neue Diener stieg taumelnd vom Pferd, hielt sich am Rock des Butlers fest und bat ihn dringend um eine Angel; er brauche sie, so erklärte er, um den armen Wyvern aus der Hölle zu fischen.
    Aus dieser und ähnlich sinnvollen Aussagen schlossen die anderen Dienstboten, dass er sich erkältet hatte und fieberte. Sie brachten ihn zu Bett und schickten nach dem

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