Jonathan Strange & Mr. Norrell
machten sein überlegener Verstand und seine weitläufigen Erfahrungen in der Welt ihn zu einem geborenen Stellvertreter der beiden Mr. Stranges in sämtlichen komplizierten Anliegen, die anfallen mochten; in seiner Fantasie sagten sie bereits Dinge wie: »Wie du weißt, Jeremy, handelt es sich hier um ernsthafte Angelegenheiten, deren Ausführung ich niemand anderem als dir anvertrauen möchte.« Es wäre übertrieben zu sagen, dass er diese Hoffnungen sofort fallen ließ, doch er konnte sich nichts vormachen; Jonathan Strange schien nicht gerade sehr erfreut darüber, dass sich jemand in seinen privaten Gemächern Sherry aus seinen privaten Vorräten holte.
Also betrat der neue Diener, dessen gerade flügge gewordene Hoffnungen nun etwas gedämpft waren, Laurence Stranges Schreibstube in gefährlich gereizter Stimmung. Mr. Strange schüttete das zweite Glas Sherry umgehend hinunter und bemerkte, dass er gern ein weiteres hätte. Daraufhin gab der neue Diener einen erstickten Aufschrei von sich, raufte sich die Haare und rief: »Warum um Gottes willen haben Sie alter Narr das nicht gleich gesagt? Ich hätte Ihnen die ganze Flasche gebracht!«
Mr. Strange sah ihn überrascht an und sagte milde, er müsse ihm natürlich nicht unbedingt ein weiteres Glas bringen, wenn ihm das solche Umstände bereite.
Der neue Diener kehrte in die Küche zurück (und fragte sich währenddessen, ob er nicht doch etwas barsch gewesen war). Ein paar Minuten später läutete die Klingel erneut. Mr. Strange saß an seinem Schreibtisch und hielt einen Brief in der Hand, während er durchs Fenster in die pechschwarze Regennacht hinausblickte. »Auf dem Hügel dort drüben wohnt ein Mann«, sagte er, »und dieser Brief, Jeremy, muss ihm vor Tagesanbruch zugestellt werden.«
Ah!, dachte der neue Diener, so schnell kann es gehen. Ein dringendes Geschäft, das im Schutz der Nacht abgewickelt werden muss. Was kann das bedeuten? – doch nur, dass er meine Hilfe bereits der der anderen vorzieht. Überaus geschmeichelt, erklärte er eifrig, dass er sich umgehend auf den Weg machen werde, und nahm den Brief an sich, der lediglich die geheimnisvolle Aufschrift »Wyvern« trug. Er erkundigte sich, ob das Haus einen Namen habe, damit er, falls er sich verlaufen sollte, jemanden fragen könne.
Mr. Strange wollte gerade sagen, dass das Haus keinen Namen habe, doch dann hielt er inne und lachte. »Du musst nach Mr. Wyvern von der Farm des Gebrochenen Herzens fragen«, sagte er. Er erklärte dem neuen Diener, er müsse von der Hauptstraße an einem zerbrochenen Gatter gegenüber von Blackstocks Schänke abbiegen; hinter dem Gatter finde er einen kleinen Weg, der ihn direkt zur Farm des Gebrochenen Herzens bringen würde.
Also holte der neue Diener ein Pferd aus dem Stall, nahm eine helle Laterne und ritt auf die Hauptstraße hinaus. Es war eine düstere Nacht. Die Luft war erfüllt von lautem Wind und bitterkaltem, peitschendem Regen, der durch alle Öffnungen in seiner Kleidung drang, so dass ihm binnen kurzem eiskalt war.
Der Weg, der gegenüber von Blackstocks Schänke begann und sich den Hügel hinaufwand, war hoffnungslos zugewachsen. Eigentlich verdiente er die Bezeichnung »Weg« nicht, denn mitten darauf wuchsen junge Schösslinge, die im starken Wind wie Ruten auf den neuen Diener einschlugen, während er sich an ihnen vorbeikämpfte. Nachdem er etwa eine halbe Meile hinter sich gebracht hatte, fühlte er sich, als habe er nacheinander mit mehreren kräftigen Männern gekämpft (und da er ein Hitzkopf war, der ständig auf öffentlichen Plätzen in Streit geriet, war ihm dieses Gefühl durchaus vertraut). Er verfluchte Wyvern als nachlässigen, faulen Burschen, der es nicht einmal schaffte, seine Hecken in Ordnung zu halten. Erst nach etwa einer Stunde erreichte er eine Stelle, die einst ein Feld gewesen sein mochte, nun aber nur noch aus Dornengestrüpp und Brombeersträuchern bestand, und er begann zu bereuen, dass er keine Axt mitgenommen hatte. Er ließ das Pferd an einem Baum angebunden stehen und versuchte, sich einen Weg zu bahnen. Die Dornen waren groß, spitz und zahlreich; mehrmals hing er im Gestrüpp an so vielen Stellen auf einmal und auf so komplizierte Art fest (ein Arm über ihm, ein Bein hinter ihm verdreht), dass er die Hoffnung verlor, je wieder freizukommen. Es schien ihm merkwürdig, dass jemand hinter einer so dichten Dornenhecke leben konnte, und er dachte, dass es ihn nicht besonders überraschen würde, sollte sich
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