Jones, Diana Wynne
Steine dahinrauschte, und an jeder scharfen Kurve drohte der Wagen aus der Spur zu geraten und in die Tiefe zu stürzen. Hestefan führte das Maultier am Zügel. Abwechselnd stemmten sich alle anderen gegen die Seite des Wagens und hielten das Gespann in der Kurve. Unter ihren Stiefeln knirschte der rutschige Schotter. Jenseits der Kante schoss entweder aufgepeitschtes weißes Wasser dahin, oder es gähnte dort ein entsetzlicher, nebelgefüllter Abgrund. Als Maewen das erste Mal an der Reihe war, veranlasste sie ein Schnattern und Schreien über ihr, den Kopf zu heben und aufzublicken. Auf den Windungen über ihnen waren dreieckige weiße Flecken zu sehen. Die Gänsefrau schien aufgeholt zu haben.
Die Kleckse und der Lärm kamen mit jeder Biegung näher. »Die Gänse haben es leichter auf dem Weg«, sagte Navis zu Mitt, während sie sich Schulter an Schulter gegen die Wagenseite mit den Goldbuchstaben stemmten. Mitt lachte und hoffte, sie bekämen es nicht noch einmal mit der Gänsefrau zu tun.
Während sie so langsam den Weg abstiegen, verbreiterte sich der weiß schäumende Bach zu einem Bergfluss, der unter einem Steilhang voller Stechpalmen und kleinen, bedrohlichen Ebereschen über ein Bett aus grünen Steinen donnerte. Der Nebel kochte immer weiter nach oben. Irgendwo verwandelte er sich wie durch ein Wunder zu einer richtigen Wolke, die an den höheren Bergspitzen hing. Die Sonne fiel darauf und schuf aus ihr ein Gespinst aus Goldfilm, durch das wie grünschwarze Knochen die Felsen zu sehen waren. Allmählich fühlten sie sich alle wieder trockener.
An dieser Stelle entdeckte Maewen aus dem Augenwinkel eine Frau am anderen Ufer des tosenden grünen Flusses. Das heißt, sie glaubte, zwischen zwei Ebereschen jemanden zu sehen, doch als sie den Kopf dorthin drehte, sah sie nur die beiden Bäume. Sie bemerkte aber, dass Mitt ebenfalls mit dem Kopf zuckte, als habe auch er dort etwas entdeckt. Dann, als komme ihm plötzlich ein Gedanke, schaute er in die Serpentinen über ihnen hoch. Maewen folgte seinem Blick. Dort war nichts mehr. Kein Gänseschwarm, keine Frau, die sie vor sich hertrieb. Sie hörte nicht einmal mehr das Schnattern.
Sie sind hinter einer Biegung außer Sicht, dachte sie.
Mitt hingegen dachte: Libbi Bier! Was hat sie vor?
Wend kam über die kleinen Steine schlitternd zum Wagen geeilt und nahm dabei die Quidder von seinem Hals. »Ist es dir recht, wenn ich sie ihm wieder zurückgebe?«, rief er Maewen zu. »Ich muss euch für eine Weile verlassen. Ich warte am Wegstein südlich des Auentals auf euch.«
»Ja, ich denke schon«, sagte Maewen ziemlich bestürzt. »Aber was, wenn wir den ganzen Tag brauchen?«
»Ich warte auf euch«, versprach Wend und reichte Moril die Quidder. Moril legte sie sich auf die Knie, und sofort lastete, seinem Aussehen nach zu urteilen, wieder das ganze Gewicht der Verantwortung auf ihm. Sie gingen weiter nach unten. Maewen sah noch, wie Wend mit großen, platschenden Schritten den Fluss überquerte, dann war er verschwunden.
Er will sich mit dieser Frau treffen, dachte Maewen. Dann war sie also wirklich da.
An der nächsten Biegung hatte sie Wend schon vergessen. Der Weg mündete in den großen grünen Keil des Auentals, an dessen Spitze die Stadt Auental als eine Masse rauchender Schornsteine unterhalb ihrer Füße lag. Maewen war sehr erstaunt. Sie hatte gewusst, dass der Ort heute kleiner sein musste als zu ihrer Zeit, aber doch nicht so viel kleiner! Eigentlich war das noch gar keine richtige Stadt, sondern nur ein größeres Dorf.
Nach zwei weiteren Straßenbiegungen erreichten sie die grünen Wiesen vor der Stadt, und Maewen konnte es noch immer nicht fassen. Sie wusste, wie absurd es eigentlich war, doch sie hatte die hohen Häuserblöcke und eleganten Geschäfte zu sehen erwartet, die sie von ihrem Besuch mit Tante Liss kannte. Dieses Auental aber wirkte geduckt. Die Häuser bestanden ausnahmslos aus grünlichem Stein, und keines besaß mehr als zwei Obergeschosse. Maewen konnte kaum fassen, wie viel Rauch aus den Kaminen drang. Der Weg wurde übergangslos zu einer richtigen, ebenfalls mit grünlichen Steinen gepflasterten Straße, die auf einer Brücke den Fluss überquerte. Der Wasserlauf sah nun eher braun als grün aus und strömte ruhig zwischen den Steinmauern dahin, auf denen kleine Jungen saßen und angelten.
Auf der anderen Seite der Brücke begann die Hauptstraße, und Maewen verschlug es fast den Atem. Wie in einem fremden Land!, dachte sie.
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