Jones, Diana Wynne
Locken hervorwachsenden Hörnern bewehrten Kopf und schaute Mitt an. Der Stier schwang den buscheligen Schwanz. Ohne die roten Augen von Mitt zu nehmen, näherte sich der Stier dem Felsblock. Wenn er auftrat, spürte Mitt, wie der Granit unter dem Gewicht des Tieres erbebte.
Und was soll ich jetzt tun?, überlegte er und kauerte sich auf dem Felsen nieder.
Eine Frau kam um den Felsblock und blickte zu Mitt hoch. »Diesen Weg nimmst du lieber nicht«, sagte sie zu ihm und nickte dem Stier zu. Sie trug ein grünes, rot besticktes Kleid in dem Schnitt, der auf den Heiligen Inseln üblich war, und doch meinte Mitt, dass sie keine Inselfrau sein konnte. Sie war hochgewachsen und hatte langes rotes Haar, das im Seewind hinter ihr herflatterte. Ihr Gesicht war schön und recht ernst. »Geh dort hinauf«, sagte sie und deutete auf den höher gelegenen Teil der Insel über dem Fels.
Mitt folgte ihrem Arm und entdeckte einen Pfad aus festgetretener Erde, der sich steil zwischen Felsblöcken hindurch zum Gipfel wand. Erneut warf er einen Blick auf den Stier, der ihn unfreundlich erwiderte. »Das sollte ich wohl lieber«, stimmte er der Frau zu und erhob sich. Dann erst begriff er, dass die Frau auf der Wiese stand, nur wenige Schritte von dem Stier entfernt. »Kann dir hier nichts geschehen?«, fragte er.
Die Frau lächelte. Ihr Lächeln erinnerte Mitt an Milda, wenn das Grübchen die Sorgenrunzel aus ihrem Gesicht vertrieb. »Danke. Ich weiß ihn zu nehmen«, sagte sie.
Als Mitt den steilen Pfad in Angriff nahm, sah er, wie die Frau mit vorgestreckter Hand auf den Stier zuging. Der Bulle streckte den massigen Hals und beschnüffelte ihre Finger. N á, besser bei ihr als bei mir!, dachte sich Mitt.
Der Pfad schlängelte sich vorwärts und rückwärts den Berg hinauf, drang zwischen verkrümmten Bäumen hindurch und beschrieb über Felsen haarnadelscharfe Kurven. Während Mitt kletterte, stieg ihm immerzu der warme Duft von Erde und der scharfe Geruch nach Torf in die Nase. Das getragene Platschen und Rollen der Wellen wurde lauter und klang doch ferner. Mitt fragte sich, wohin er ging und was es ihm nutzte, wenn er dort ankam. Dann bog der Pfad um einen Felsblock, aus dem ein Baum herauswuchs, und führte in ein sehr kleines Tal, das auf einer Seite zum Meer hin offen war und grüner erschien als irgendeine der Inseln. Mitt blieb stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Im goldenen Licht hatte er einen prächtigen Ausblick über die Inseln: auf der einen Seite grün-goldene Eilande in blaugrauem Meer, auf der anderen Seite blauschwarze Inseln vor der Sonne, silber-golden schwebend wie Wolken bei Sonnenuntergang.
Erhitzt, atemlos und unglücklich, wie er war, empfand Mitt bei diesem Anblick tiefe Bitterkeit. In Zeiten, die er lange vergessen hatte, als kleiner Junge, da hatte er von einem Ort wie diesem geträumt. Nun hatte er ihn gefunden, und was nutzte es ihm?
Er wandte sich ab und ging tiefer ins Tal. Dort war es feucht und kühl. Zu Mitts Freude rann an einem Felsen ein Bächlein hinab. Der staubige Sack hatte ihn sehr durstig gemacht. Er tauchte erst die Hände und dann das Gesicht ins Wasser. Triefend kam er wieder hervor. Er bemerkte neben dem Bach einen der Steinpfeiler, wie er sie schon auf der Insel Gart gesehen hatte. Er war etwa so hoch wie eine Sonnenuhr, aber breiter. Darauf standen zwei kleine Figuren, eine aus grünen Trauben und Vogelbeeren, die andere aus geflochtenen Weizenstängeln.
»He!«, rief Mitt. »Da sind ja Libby Bier und der Alte Ammet!«
Als er die Hand vorstreckte, um den Alten Ammet zur Begrüßung zu berühren, erbebte das kleine Tal unter den Füßen eines großen Wesens. Er wirbelte herum und fürchtete, sich wieder dem Stier gegenüberzusehen.
Ein grauweißes Pferd hatte weiter unten im Tal angehalten, und ein Mann mit wehendem hellem Haar stieg ab. Mitt wischte sich hastig das nasse Gesicht mit dem Ärmel ab und wich bis an den Steinpfeiler zurück. Der Mann war der Alte Ammet. Er trat auf Mitt zu und lächelte dabei matt. Sein langes helles Haar flatterte und wirbelte um seinen Kopf und seine Schultern, als stürmte es im Tal; dabei ging überhaupt kein Wind. Der Alte Mann hatte einen direkten, ernsten Blick, der Mitt ein bisschen an Hobin erinnerte, obwohl sein Gesicht in keiner Weise Hobin glich. Solch ein Gesicht hatte Mitt noch nie gesehen. Hielt Mitt den Alten Ammet im einen Moment noch für einen würdigen Greis, so erschien er im nächsten als stattlicher junger Mann. Und als
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