Jones, Diana Wynne
Norden ist doch eine Strömung, oder? Wenn wir da hineingeraten, sind wir niemals vor Einbruch der Dunkelheit zurück im Hafen, auch nicht, wenn wir hart am Winde segeln«, erwiderte Hildy.
»So weit wollte ich auch gar nicht«, sagte Ynen. »Ich wäre gern bei Tageslicht zurück, schon allein wegen der Sandbänke. Ich dachte, wir fahren nach Norden, bis die Gezeit nachlässt, dann essen wir zu Abend, und mit der Flut kehren wir nach Holand zurück.«
»Abendessen ohne Gezeit klingt ganz gut«, gab Hildy zu. »Und schließlich bist du der Kapitän.«
Ein Abendessen hielt Mitt für eine sehr gute Idee, ganz gleich wann. Und wir teilen es in drei Teile, dachte er. Zwei für mich und einen für euch. Dann reden wir darüber, wer hier der Kapitän ist und wie weit wir nach Norden fahren. Er raffte sich auf und holte Hobins Handbüchse hervor, um zu sehen, ob sie auf der Flucht durch die Gräben gelitten hatte. Zu Mitts Erleichterung war sie noch völlig trocken. Er legte sie in Griffweite neben seinen Kopf und döste wieder ein. Die Straße des Windes hob und senkte sich. Ihre Segel knirschten im Wind. Das Wasser plätscherte vorbei. Ynen und Hildy redeten nicht viel. Sie waren viel zu glücklich. Zeit und Land glitten davon.
Als Nächstes nahm Mitt wahr, dass die Bewegung der Straße des Windes träger geworden war. Hildy sagte ärgerlich: »Warum hast du behauptet, du wüsstest es, wenn du überhaupt keine Ahnung hast?«
Geduldig antwortete Ynen in dem übermäßig bestimmten Tonfall von Menschen, die ebenso sehr wie den anderen sich selbst überzeugen möchten: »Ich weiß es sogar genau. Das dort muss Kap Hoe sein, und Kleinkoog wird gewiss in der Senke dahinter liegen. Ich habe nur gesagt, dass wir ein bisschen weiter hinausgefahren sind, als ich erwartet hatte.«
Mitt blinzelte zu den weiß-golden gerahmten Bullaugen und war erstaunt, dass noch immer Tageslicht herrschte. Sollten sie dennoch so weit gekommen sein? Dann war die Straße des Windes ein großartig schnelles Boot, auch wenn die Ebbe ihr geholfen hatte. Es sei denn natürlich, er hatte die ganze Nacht durchgeschlafen, und es war schon der nächste Tag. Mitt hatte am Tag des Seefests so viel erlebt, dass er sich schon vor dem Anbordgehen fühlte, als hätte er eine Woche lang kein Auge zugetan.
»Willst du damit sagen, dass du glaubst, wir sind in diese Strömung geraten?«, fragte Hildy scharf. »Denn dann sollten wir lieber auf der Stelle kehrtmachen.«
»Nein, nein. Das ist nur ruhiges Wasser«, versicherte Ynen ihr besorgt. »Ich merke an der Art, wie sie fährt, dass es nur ruhiges Wasser ist.«
Mitt dachte über die neue Bewegung der Straße des Windes nach. Ihm kam es eher vor, als wären sie bereits in einer Strömung, und das passte ihm ausgezeichnet. In diesem Fall waren sie ganz woanders, als der blutige Anfänger an der Ruderpinne glaubte.
»Wo fängt die Strömung an?«, fragte Hildy.
»Das ist ja das Schwierige«, gab Ynen zu. »Vielleicht schon bei Kap Hoe, vielleicht erst bei Kleinkoog. Ich bin mir nicht sicher.«
Mitt hob den Blick zur reich verzierten Decke. Die Strömung begann vor Kap Hoe, und Kap Hoe kam erst nach Kleinkoog. Ich dachte, jeder wüsste das. Außerdem, was ist daran so schlimm? Du brauchst doch nur weiter aufs Meer hinauszufahren, um sie wieder zu verlassen.
Doch die Straße des Windes war nur ein Ausflugsboot. Ynen hatte sich mit ihr noch nie außer Sichtweite zur Küste entfernt. Und bisher hatte er auch immer Seeleute dabeigehabt, die die Küste gut kannten. »Ich glaube, du solltest mir doch lieber die Karte holen«, sagte er zu Hildy. »Sie liegt im Regal über der Backbordkoje.«
»Ja, das halte ich auch für besser«, stimmte Hildy ihm zu und machte sich auf den Weg.
Hoppla!, dachte Mitt, als er sie kommen hörte. Jetzt musste er handeln. Er hob Hobins Handbüchse auf und spannte den Hahn, während er gleichzeitig von der Koje sprang. Dann riss er die Tür auf und stürzte, gerade als Hildy hereinkommen wollte, aus der Kajüte.
Sie prallten fest aufeinander. Hildy war etwas größer als Mitt und wog einiges mehr, aber Mitt bewegte sich doppelt so schnell wie sie. Mit einem Schrei fiel Hildy auf den Rücken, während Mitt gegen die Kajüte zurückgeschleudert wurde. Die Büchse entlud sich mit einem bellenden Knall und einem Ruck, der sie Mitt fast aus der Hand gerissen hätte. Es war, als würde ihm jemand mit einem Hammer aufs Handgelenk dreschen. Splitter aufwirbelnd, pflügte die Kugel sich
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