Josef und Li: Roman (German Edition)
hatte ein bisschen das Gefühl, übertrieben zu haben.
Li aber hielt Josef keineswegs für einen Prahlhans. Im Gegenteil, sie lächelte ihm zu, nickte zustimmend, und wiederholte: »Fre-ssen-po-liert.«
»Das sind doch echte Idioten …«, fügte Josef hinzu und Li wiederholte wie ein Echo: »Idi-oten.«
»Wichs …« Josef atmete ein, denn er wollte sich Erleichterung verschaffen mit einem Wort, das er zu Hause niemals aussprechen dürfte, doch dann sah er Li an und verbesserte sich schnell: »Wichtel!« Und Li wiederholte ergebenst: »Wichs-Wichtel.«
»Drecksfressen«, sagte Josef und sah Li forschend an, ob sie auch dieses Wort wiederholte.
»Drecks-fre-ssen.« Li enttäuschte ihn nicht. Und Josef schickte noch viele Worte an die Adresse der Tigerkrallen: Fischscheißer, Dreckskäfer, Eiterfresser, Fliegenschlecker, schäbiges Pack, und Li wiederholte alle Wörter brav und Josef war sich immer sicherer, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, was sie bedeuteten. Doch ganz sicher war er sich noch nicht, also sagte er, um Li zu testen: »Und du bist ein Brokkoli.
»Und – du – bist – ein – Bro – ko – li«, sprach Li Josef
nach, und Josef sagte, er sei kein Brokkoli, sondern Josef. Und Li sagte, sie sei kein Brokkoli, sondern Josef.
»Du bist nicht Josef«, korrigierte Josef Li und sagte überdeutlich, wie die Frau Lehrerin in der Schule: »Du Li!« Und dann deutete er auf sich und sagte: »Und ich Josef.«
»Du Josef«, sagte Li und deutete auf Josef und dann deutete sie auf sich: »Und ich Li.«
»Genau. Ich Josef und du Li«, bestätigte Josef. Endlich hatten sie die Vorstellerei hinter sich. Und dann hörte man aus dem Käfig auf Lis Schreibtisch das Krächzen des Papageis und Josef hatte verstanden: Der Papagei sagte auf Vietnamesisch, er sei Ping Nguyen. Li freute sich, dass Josef den Papagei verstanden hatte, und lobte ihn wie die Frau Lehrerin: »Ausgetseichne, Josef!«
»Sin tschau, Ping Nguyen«, sagte Josef freundlich zum Papagei, damit sich Li noch mehr freute, und Olík schaute ein wenig beleidigt, dass sich Josef mit dem Federvieh abgab und zudem noch in einer seltsamen Sprache.
»Sin tschau, Krabbenschere«, antwortete der Papagei auf Vietnamesisch, doch das hatte Josef nicht verstanden und Li lächelte nur geheimnisvoll.
Und dann ging die Tür auf und Frau Nguyen kam herein. Als sie Josef und Olík in Lis Zimmer sah, war sie ein wenig verdutzt.
Li schob eine vergessene Scherbe unauffällig unter das Bett und fing ihrer Mutter überstürzt zu erzählen an. Diesmal verstand Josef kein Wort. Er hörte nur »Josef« und »Olík« aus dem Redefluss der fremden Sprache heraus und so vermutete er, dass von ihm die Rede war. Sein Blick wechselte von Li zu
Frau Nguyen und dann von Frau Nguyen zu Li, und dann lächelte Frau Nguyen Josef endlich zu.
»Guten Tag, junge Mann, fleut mich, Sie kennenzulelnen«, sagte Frau Nguyen förmlich und reichte Josef die Hand.
»Guten Tag«, sagte Josef und hielt dem prüfenden Blick von Frau Nguyen stand. Frau Nguyen wollte mit diesem Blick herausfinden, ob Josef ein anständiger Junge war und Li mit ihm befreundet sein durfte. Und sie kam zum Schluss, dass Li durfte – vielleicht war sie ein bisschen kurzsichtig –, und lud Josef zum Tee ein. Doch Josef schlug die Einladung aus. Es war schon spät und er musste heim, sonst drohte im Rausverbot.
»Lausverbot?«, wunderten sich Li und Frau Nguyen, und Josef erklärte, dass mit Rausverbot Hausarrest gemeint war.
»Ah, Hausallest«, wiederholte Frau Nguyen, als ob Josef etwas furchtbar Nettes und Höfliches gesagt hätte, und lächelte ihn erneut an. Josef lächelte auch und dann verbeugte er sich ein bisschen vor den beiden und sagte, wie er es vom Opa oder von Herrn Bílek kannte: »Küss die Hand, Madame«, und Frau Nguyen und Li beugten sich auch ein bisschen vor und sagten: »Küss – die – Hand, Monsieur.«
Josef und Olík schwangen sich zum Fenster hinaus und sprangen zur völligen Verwunderung von Frau Nguyen in den Hof, als ob es in Tschechien völlig üblich wäre, Fenster statt Türen zu benutzen.
Nachdem Josef wieder zu seiner Forschungsstation zurückgekehrt war – diesmal hatte sich Josefs Zimmer nämlich in eine Forschungsstation verwandelt –, zog er das Geheime Heft der Tigerkrallen hervor und fing sofort an zu lesen.
Die Aufzeichnungen der Tigerkrallen waren bestimmt von Helena geschrieben, denn die Schrift war elegant und die Blätter hatten keine Fettflecken, die Máchal
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