Josef und Li: Roman (German Edition)
und es schien bereits, als ob er wieder die Regenrinne entlang nach unten rutschen würde. Und dann erinnerte er sich an Li, an die Hydra und an Herrn Klička mit Frau Kličková und auf einmal schöpfte er weiß Gott woher neue Kraft, einen riesengroßen Berg an unerwarteter Energie, und so gelang es ihm schließlich doch, sich zum Balkon hochzuziehen und sich zwischen zwei Geländerstangen hindurchzuwuchten.
Durch das Fenster drang Licht aus dem Wohnzimmer und Josef erkannte dahinter Frau Bajerová, die gerade den Tisch deckte, und Helena, wie sie Blumen goss … sie näherte sich langsam, aber sicher dem Balkon!
Im allerletzten Augenblick drückte sich Josef an die Wand neben der Tür und hielt die Luft an. Helena trat wirklich auf den Balkon heraus und fing an, die vertrocknete Kresse und die verwelkten Ringelblumen in den Blumenkästen zu gießen. Und obwohl kein Leben mehr in den Pflanzen war, übergoss sie Helena mit Wasser. Vielleicht aus Gewohnheit, vielleicht aber auch, weil sie nicht zulassen wollte, dass der Sommer schon längst vorbei war und die Pflanzen, die sie im Frühling aus den Samen gezogen hatte, das nächste Jahr nicht mehr erleben würden.
Vielleicht war es auch nur ein Vorwand, um einfach so, nur mit einem T-Shirt bekleidet hinauszugehen, eiskalte Luft einzuatmen und sich davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung
war. Helena beugte sich nämlich unauffällig zum großen Blumentopf herunter, aus dem eine verkümmerte Fichte ragte, und schob ein wenig Erde beiseite. Und Josef konnte ganz genau sehen, was sich darunter befand!
»Helena, Abendessen ist fertig!«, hörte man die Stimme von Frau Bajerová aus der Küche, und so schob Helena rasch die Erde wieder zurück und ohne zu bemerken, dass an der Wand direkt neben der Tür ein Gartenzwerg aus Gips prangte – in Wirklichkeit war es Josef, der aussehen wollte wie ein Gartenzwerg aus Gips –, ging sie wieder hinein.
Und dann lief alles wie am Schnürchen. Josef grub die Blechbüchse aus der Erde, nahm das Geld heraus, schüttete stattdessen eine Handvoll Kieselsteine hinein und fuhr wie der Blitz wieder über die Regenrinne hinunter auf den Gehsteig.
Er bekam schrecklichen Hunger, und so aß er daheim zum Abendbrot mindestens fünf Frikadellen – Frau Kličková musste sie auf dem Backblech ausbacken, in dem normalerweise die Schildkröte nächtigte, denn ihre einzige Bratpfanne blieb immer noch verschwunden. Er lachte übers ganze Gesicht und war wieder glücklich und stolz und kam sich überhaupt nicht mehr wie ein ausrangierter Computer oder wie ein verbranntes Bügelbrett vor.
Am nächsten Tag war Li stolz auf Josef. Sie schaute zu ihm auf, als ob er sich in irgendeine Gottheit verwandelt hätte. Josef musste ihr auf dem Weg zu der Frau von der Anzeigenannahme mindestens fünfmal zeigen, wie er auf dem Balkon der Bajers den an die Wand gedrückten Gartenzwerg mimte. Und
so behagte ihr die Vorstellung, was für Augen die Tigerkrallen machen würden, wenn sie das Kästchen öffneten und darin nur wertlose Kiesel fänden: Sie würden drumherum stehen und dumm aus der Wäsche gucken.
In Wirklichkeit war die Sache aber noch viel schlimmer. Máchal, Hnízdil und Šíša hatten Gewissensbisse, sie fühlten sich wie Diebe, und so gingen sie nach der Schule zu Helena und baten sie, Josef die Kasse zurückzugeben.
Helena versuchte sie zwar davon zu überzeugen, dass es kein Diebstahl war, sondern nur eine verdiente Rache, doch die Jungs bestanden darauf. Also holte sie die Büchse vom Balkon. Und dann, als die Jungs die Büchse öffneten und feststellten, dass sich darin nur ein Haufen Steinchen befand, schauten sie tatsächlich eine Weile dumm aus der Wäsche, Li hatte Recht behalten.
Helena versicherte ihnen, die Kasse nicht angefasst zu haben, doch vergeblich. Die Jungs glaubten ihr kein Wort. Sie schauten sie nur eine Weile empört an und gingen dann ohne ein Wort zu sagen weg. Und auch später ließen sie sich nicht wie verabredet im verlassenen Garten blicken.
Helena wartete dort lange und umsonst auf sie. Und dann weinte sie ein bisschen. Und als es schon aussah, als ob sie nicht mehr aufhören würde zu weinen, hörte sie ein Miauen über sich.
Helena hob den Kopf und sah in der Baumkrone des Birnbaums eine Katze. Sicher war sie auch traurig und jemand hatte sie auch ungerecht behandelt, aber sie war in erster Linie hungrig und ihr war kalt. Und so miaute sie, bis sie ausgemiaut hatte. Und Helena verstand jedes Wort, also
Weitere Kostenlose Bücher