Josef und Li: Roman (German Edition)
einen Augenblick lang in Erinnerungen schwelgen ließ. Genauso blinkten die Lichter von Quang Yen aus der gegenüberliegenden Seite der Bucht, als sie mit ihrem Cousin Muscheln fischen war. Sie kochten
die Muscheln in Salzwasser und aßen sie gleich an Ort und Stelle.
Am Ast des Zwetschgenbaums hing eine weiße Fahne als Zeichen des Friedens und im Inneren der Gartenlaube huschten die Schatten der Tigerkrallen umher. Und der von Josef! Es war also kein dummer Scherz und auch kein Missverständnis. Li blieb zusammengekauert am Gartentor hocken. Erst als sie neue Kraft geschöpft und sich ihr Atem wieder beruhigt hatte, lief sie langsam in Richtung der Gartenlaube weiter. Sie näherte sich unbemerkt dem Zwetschgenbaum, von wo aus sie gut sehen und auch hören konnte.
»Nimm doch bitte bei uns Platz«, forderte Helena Josef auf, der kurz vor Li in den Garten gekommen war, und Šíša schob ihm dienstfertig ein freies Kistchen hin. Und dann bot ihm Helena einen Teller mit Gebäck an. Aber Josef blieb stehen und walkte in seiner Hand einen Stern aus Mürbteig.
»Keine Angst, es ist nicht vergiftet«, sagte Máchal und schob sich mit Gusto eine Handvoll Gebäck in den Mund.
»Wie du sicher weißt«, fuhr Helena fort und schaute wie die allerfriedfertigste Person unter der Sonne drein, »wollen die Jungs … und ich auch … dass alles wieder so ist wie früher. Dass wir wieder Freunde sind.«
»Ja. Dass wir wieder Freunde sind«, wiederholte Šíša wie ein Echo von Helena und sah aus, als würde er sich das wirklich sehr wünschen.
»Willst du auch?«, fragte Máchal gerade noch rechtzeitig, bevor er sich an einem Plätzchen verschluckte.
»Ja, das will ich auch«, sagte Josef, woraufhin Helena Máchal auf den Rücken haute und das Plätzchen hinausflog.
Li verschluckte sich auch ein wenig in ihrem Versteck – und zwar an dem Rinnsal Salzwassers, das ihr wie aus dem Nichts durch das Innere ihres Kopfes direkt in den Hals zu laufen begann. Aber niemand haute ihr auf den Rücken.
»Du könntest der Anführer der Tigerkrallen werden«, sagte Helena und Josef lächelte erfreut.
»Helena könnte deine Stellvertreterin sein, Máchal wäre der Stellvertreter von Helena und ich wäre der Stellvertreter von Máchal«, sagte Hnízdil.
»Und ich der Stellvertreter von Hnízdil«, fügte Šíša hinzu, aber man sah ihm an, dass ihm alle Ränge vollkommen schnuppe waren, Hauptsache Josef würde wieder mit ihnen befreundet sein.
»Bist du einverstanden?«, sagte Helena und spießte Josef mit ihrem Blick, in dem es teuflisch aufblitzte, auf.
»Ja, ich bin einverstanden«, antwortete Josef nach einer Weile. Und Šíša, Máchal und Hnízdil fiel ein Stein vom Herzen.
»Die Sache hat nur einen Haken«, brachte Helena langsam, aber umso deutlicher vor, und Li spitzte schnell die Ohren, damit ihr auch kein einziges Wort entging. »Du wirst nicht mehr mit Li Nguyen befreundet sein! Li Nguyen wird niemals eine Tigerkralle werden!«
Máchal, Hnízdil und Šíša blickten Helena verwundert an. Das war nicht abgesprochen. »Du meinst also, dass Li Nguyen niemals eine Tigerkralle sein wird?«, wiederholte Josef Helenas Worte.
»Ja. Nicht in einer Million Jahren«, bestätigte Helena.
»Na gut«, sagte Josef nach einer kurzen Zeit, in der er sich alles genauestens zu überlegen schien, »Li Nguyen wird keine
Tigerkralle, auch nicht in einer Million Jahren.« Josef sagte es so leichtfüßig und sorglos, dass sich Máchal, Hnízdil und Šíša im Geist wunderten, wie leicht es ihm fiel, seine einzige Verbündete zu verraten. Und Li wunderte sich erst! Bis zum letzten Augenblick und im hintersten Winkel ihrer Seele hoffte sie, dass sich doch noch alles aufklären würde. Aber jetzt hörte sie es schwarz auf weiß. Das heißt also Wort für Wort. Und sie wollte schon aus ihrem Versteck aufstehen und nach Hause rennen und dort bis ans Ende ihrer Tage heulen, heulen, nichts als heulen. Aber da hörte sie Josef sagen: »Dann ich auch nicht! Nicht in einer Million Jahren werde ich eine Tigerkralle sein! Und den Anführer werde ich euch auch nicht machen.« Und dann drehte sich Josef um und marschierte aus dem verlassenen Garten. Er kam sich wie ein echter Held vor und dieses Gefühl wärmte ihn und ließ ihn schweben. Besonders als ihn nach ein paar Metern Li einholte und ihn endlich so anlächelte, wie er es sich immer schon wünschte – mit Bewunderung! Damit er sich aber nicht wieder allzu sehr aufblähte, fragte ihn Li, ob er schon
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