Josefibichl
später – drei Seiten weiter im Kirchenbuch – im Kindsbett bei der fünften Geburt gestorben; der Witwer hatte daraufhin der Frau des Nachbarn schöne Augen gemacht, es war zur Katastrophe gekommen, er hatte den Ort verlassen müssen, die Kinder waren zurückgeblieben. Und alles, was von diesen neun Schicksalen blieb, waren ein paar Zeilen im Kirchenbuch oder im Marktarchiv.
Er selbst war ja so gut wie geschichtslos aufgewachsen. Aber die Menschen im Ort, die seit vielen Generationen hier lebten, waren, ob sie wollten oder nicht, mit der eigenen und mit der Geschichte der anderen verstrickt. Im Grunde gab es sogar überhaupt keinen Unterschied zwischen der eigenen und der Geschichte der anderen. Vermischte man diese Familiengeschichten mit der gigantischen Entwicklung des Tourismus und den damit verbundenen Wertsteigerungen von Grundstücken – in einem Tal, in dem noch vor gut einhundert Jahren mehr schlecht als recht von der Schafzucht, der Forstwirtschaft und der Flößerei gelebt worden war –, fielen die Konflikte und damit auch die Mordmotive wahrscheinlich nur so aus den Akten heraus. Das Dumme war nur, dass sie diesen Heuhaufen auf ihrer Suche nach der berühmten Nadel möglichst in einer Nacht durchwühlt haben mussten.
Albert Frey hatte sich in ein Häferl Kaffee reichlich Zucker gerührt und betrachtete seine Papierstapel. »Das Einzige, was wir wissen, ist, dass der junge Mann ermordet wurde, nachdem er sich intensiv mit der Geschichte dieses Ortes beschäftigt hatte. Und der Abt des Klosters hat dich auf diese Spur gesetzt. Ich bin kein Kriminalist, aber all dies bedeutet noch lange nicht zwingend, dass der Mord wegen des Aktenstudiums des Opfers verübt wurde.«
»Ich bin mir dessen aber sicher. Nennen Sie es Intuition oder Berufserfahrung. Ich hab da ein Kribbeln im Bauch, dass wir der Lösung ganz nah sind.«
»Ja, ja – und ich spür’s im Knie, dass der Krieg vorbei ist«, entgegnete Frey. »Hat mein Vater gesagt, nachdem sie ihm vor Moskau den Haxen weggeschossen hatten.« Er setzte sich wieder auf die Bettkante und stöberte weiter in den unendlichen Weiten der engelbertschen Festplatte. »Unglaublich, was der alles gefunden hat«, entfuhr es ihm immer wieder.
Ab und zu druckte er ein weiteres Dokument aus und wies Hartinger an, auf welchen Stapel er es ablegen sollte. Währenddessen suchte Frey verzweifelt nach einem Muster, das sich durch die unterschiedlichen Aspekte und Kategorien der Dokumentensammlung zog. Ein Muster, das für den Dokumentensammler am Schluss tödlich gewesen war.
Schließlich beschloss er, sich auf das letzte Jahrhundert zu konzentrieren. »Es ist doch unwahrscheinlich, dass eine Geschichte, die vor der Entwicklung dieses Orts zur Fremdenverkehrsmetropole, also vor 1889, als die Bahn hier heraus gebaut wurde, der Hintergrund für diesen Mord ist«, meinte er. »Das Blöde ist nur, dass die interessantesten Akten aus der dunkelsten Zeit von Garmisch-Partenkirchen noch gar nicht freigegeben sind.«
»Das heißt, es gibt Material aus der Nazizeit, das noch immer unter Verschluss ist?«, wunderte sich Hartinger.
»Ja, wie in allen Gemeinden Deutschlands und in den großen Staatsarchiven auch. Zum Schutz der heute lebenden Nachkommen soll nicht alles öffentlich werden, was damals geschah. Wobei die noch unter Verschluss gehaltenen Unterlagen sowieso nur ein winziger Bruchteil dessen sind, was die Partei und der Apparat in den zwölf Jahren Nazidiktatur angesammelt haben. Hier in Garmisch-Partenkirchen hat Ende April 45 das Aktenfeuer im Rathaushof drei Tage lang gebrannt, als klar war, dass die Amis bald da sein würden.«
»Im Verbrennen waren die gut«, resümierte Hartinger. »Zuerst einige Völker, dann einen Kontinent und schließlich die eigenen Archive.«
»Aber irgendwas bleibt immer, Karl-Heinz, wir müssen nur tief genug graben. Wie es aussieht, hat das der junge Mönch mit unglaublichem Eifer getan. Ich muss zugeben, der ist in den zwei Jahren, seit er hier am Ort war, mindestens so weit gekommen wie ich in dreißig. Sag mal, wo kam der eigentlich her?«
»Geht das nicht aus irgendwelchen Dokumenten auf dem Rechner hervor?«, fragte Hartinger. »Ich weiß es nämlich nicht. Ich hab ihn nur einmal gesehen, und da konnte er es mir nicht mehr sagen.«
Albert Frey beendete die kurze Studienpause. »Ich muss weiterlesen. Lassen wir den armen jungen Mann aus seinen Akten auferstehen.«
Ausschwärmen sollte er. Ludwig Bernbacher wunderte sich einmal
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