Joseph Anton
Mann, der Komponist Michael Berkeley, boten ihm ihre Farm in Wales an. »Wenn du sie brauchst, gehört sie dir«, sagte Deb nur. Er war tief gerührt. »Weißt du«, sagte sie, »das ist perfekt. Alle Welt glaubt, wir hätten uns zerstritten, also wird dich dort niemand vermuten.« Am nächsten Tag fiel der seltsame kleine Zirkus in Middle Pits ein, diesem gemütlichen Bauernhaus im hügeligen Waliser Grenzland. Niedrig ziehende Wolken, Regen und das Wiederaufflammen einer alten Freundschaft, aller Streit fortgespült vom Druck der Ereignisse und engen, liebevollen Umarmungen. »Bleib, so lange du magst«, sagte Deb, doch er wusste, dass er ihre und Michaels Gastfreundschaft nicht überstrapazieren durfte. Er musste ein eigenes Haus finden. Marianne war einverstanden, sich am nächsten Tag bei den Maklern in der Umgebung zu erkundigen und nach Mietshäusern zu suchen. Sie bauten darauf, dass ihr Gesicht nicht so bekannt war wie seines.
Was ihn selbst betraf, so durfte er auf dem Hof nicht gesehen werden, da er sonst die Sicherheit ›gefährdete‹. Ein Bauer, der sich für Michael und Deb um deren Schafe kümmerte, kam einmal vom Hügel herab, um mit Michael etwas zu bereden. Ein alltäglicher Augenblick wurde zur Krise, da Unsichtbarkeit verlangt war. »Pass auf, dass er dich nicht sieht«, sagte Michael, und er musste sich hinterm Küchentresen verkriechen. Wie er da hockte und hörte, dass Michael versuchte, den Mann möglichst rasch wieder loszuwerden, fand er seine Lage ziemlich beschämend. Wer sich auf solche Weise verstecken muss, verliert jeden Selbstrespekt. Sich so verstecken zu müssen ist erniedrigend. Vielleicht, dachte er, wäre so leben zu müssen schlimmer, als tot zu sein. In seinem Roman Scham und Schande hatte er über die muslimische Ehrenkultur und ihre moralische Achse geschrieben, an deren Enden sich Ehre und Scham gegenüberlagen, was sie deutlich vom christlichen Gegensatzpaar Schuld und Erlösung unterschied. Auch wenn er nicht religiös war, stammte er doch aus dieser Kultur, und man hatte ihm beigebracht, Fragen des Stolzes große Bedeutung beizumessen. Sich zu verkriechen und zu verstecken hieß, kein ehrenwertes Leben zu führen. Und wie so oft in jenen Jahren fühlte er sich überaus beschämt, voller Scham und Schande.
*
Es geschah selten, dass Weltnachrichten so ausschließlich von den Taten, Motiven, den angeblichen Vergehen und dem Charakter eines einzigen Individuums bestimmt wurden. Das bloße Gewicht der Ereignisse war eine erdrückende Last. Er stellte sich vor, die großen Pyramiden stünden auf dem Kopf und ihre Spitze ruhte auf seinem Nacken. Der Lärm der Nachrichten rauschte in seinen Ohren. Offenbar hatte jedermann auf Erden eine Meinung zu diesem Fall. Hesham al-Essawy, der ›moderate‹ Zahnarzt aus dem Mittagsprogramm der BBC , nannte ihn ein Produkt der freizügigen sechziger Jahre, »die jetzt auch Aids hervorgebracht haben«. Abgeordnete des pakistanischen Parlaments befürworteten die sofortige Entsendung einiger Attentäter nach England. Khamenei und Rafsandschani, die mächtigsten Kleriker des Iran, stellten sich hinter den Imam. »Ein schwarzer Pfeil der Vergeltung fliegt ins Herz dieses gotteslästerlichen Bastards«, sagte Khamenei bei einem Besuch in Jugoslawien. Ein iranischer Ayatollah namens Hassan Sanei setzte eine Million Dollar Kopfgeld auf das Haupt des Renegaten aus. Allerdings war nicht klar, ob dieser Ayatollah die Million auch wirklich besaß oder wie diese Belohnung eingefordert werden konnte, doch war dies keine Zeit für logische Überlegungen. Auf dem Bildschirm sah man ständig Bärte tragende (aber auch rasierte) Männer, die lauthals seinen Tod verlangten. In der Bibliothek des British Council in Karatschi – ein verschlafener, angenehmer Ort, den er oft aufgesucht hatte – ging eine Bombe hoch.
Irgendwie überdauerte sein literarischer Ruf diese lärmenden, schrecklichen Tage. Viele britische, amerikanische und indische Kommentatoren lobten sein Werk sowie das attackierte Buch, doch gab es erste Anzeichen, dass sich auch dies ändern könnte. Er sah eine erbärmliche Folge der Late Show im BBC -Fernsehen, in der ihn Ian McEwan, Aziz al-Azmeh und die mutige jordanische Autorin Fadia Faqir, die für ihr Werk gleichfalls Todesdrohungen erhalten hatte, gegen die Bücherverbrenner von Bradford und den allgegenwärtigen Zahnarzt Essawy in Schutz zu nehmen versuchten. Es ging hitzig zu, und üble Bemerkungen strömten aus den Mündern
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