Josepsson, Aevar Örn
dem Fuß nach der Tüte.
»Das ist alles im Auto«, sagte Tinna.
»Dann hol das jetzt gefälligst, Alte, worauf wartest du noch?«
»Meinst du nicht, dass es besser ist, wenn du mit mir in die Stadt zurückfährst?«, setzte Tinna an. »Ich meine, wie willst du denn …«
»Ich werde den Deubel tun und von hier wegfahren«, schnaubte Úlfur, »kapiert? Wie beschränkt bist du eigentlich, du dämliche Nutte?«
»Úlfur, nein …«
»Hol den verdammten Schlafsack, ich will dich jetzt ficken. Das Heu ist vielleicht warm, aber es sticht.«
»Ich … Ich habe meine Tage«, sagte Tinna entschuldigend. »Richtig heftig. Entschuldige.«
»Na schön«, sagte Úlfur achselzuckend, »dann bläst du mir eben einen.«
*
Katrín und Árni fuhren, wie es sich für echte Reykjavíker gehört, jeweils in ihren eigenen Autos nach Krummahólar und trafen sich auf dem Parkplatz. Immer noch lag der dumpfe Müllgeruch in der Luft, nicht nur im Eingangsbereich, sondern auch im sechsten Stock. Auf der rechten Seite war die Wohnung von Ólafur, links die von Úlfur. Die Wohnungstüren lagen einander gegenüber. Auf dem Flur gab es weitere sieben Wohnungen, die hinterste Wohnungstür lag genau gegenüber den Türen zum Aufzug und zum Treppenhaus, durch den Spion konnte man den gesamten Flur überblicken. Dort wohnte die Frau, mit der Árni tagsüber gesprochen hatte.
Sie teilten sich auf und arbeiteten sich von Wohnung zu Wohnung vor. In der einen war niemand zu Hause. In zwei anderen kamen Kinder oder halbwüchsige Jugendliche zur Tür, die Eltern waren nicht zu Hause. Die Kinder waren sehr hilfsbereit, sie fanden die Ereignisse der letzten Tage eher spannend als schrecklich. Über Ólafur wussten sie so gut wie gar nichts, außer einem Jungen, der aussagte, dass Ólafur ihn mehr als einmal »Satansbraten« genannt hatte. Wieso, wusste er nicht, und er hatte weder etwas dabei gefunden noch seinen Eltern davon erzählt, er hatte es einfach nur komisch gefunden.
»Nein, nie«, antwortete der Junge, als Árni ihn fragte, ob Ólafur jemals aggressiv geworden sei. Was hätte der alte Knacker denn einem Jungen wie ihm schon tun können? Der Junge war mindestens einsfünfundneunzig, und das vermutlich bereits seit seiner Konfirmation.
Die Besitzer der anderen drei Wohnungen konnten ebenfalls nichts Wesentliches beisteuern. Sie hatten Ólafur weder gekannt noch Umgang mit ihm gehabt. Er war immer für sich geblieben, hatte sich nie beschwert oder selber etwas getan, worüber sie sich hätten beschweren können, und sie hatten ganz einfach überhaupt nicht registriert, dass sie ihn nicht mehr im Aufzug oder auf dem Parkplatz oder sonst wo getroffen hatten. Mit Úlfur war es eine andere Sache, darin waren sie sich ebenfalls einig. Bei ihm und seiner Familie hatte es häufig genug Theater gegeben.
»Ich war schon mindestens zweimal, wenn nicht dreimal, drauf und dran, die Polizei anzurufen«, gestand die Wohnungsnachbarin von Tinna und Úlfur. Sie war um die vierzig, schlank und groß, sie trug ein grünes Kostüm und beigefarbene Schuhe, und um den Hals hatte sie einen apart gemusterten Schal drapiert. »Wenn es bei ihnen hoch herging. Er prügelt sie, da bin ich mir ziemlich sicher. Vielleicht die Kinder auch, was weiß man denn. Mir ist natürlich auch eingefallen, beim Jugendamt anzurufen, aber … Du weißt schon. Man will sich am liebsten nicht einmischen …« Sie errötete und sah Katrín verlegen an. Nein, dachte Katrín, die dieses Gefühl nur allzu gut kannte. Man will sich am liebsten nicht einmischen.
Sie räusperte sich. »Erinnerst du dich vielleicht an irgendetwas zu Ostern im vergangenen Jahr – wart ihr da zu Hause?«
Die Frau überlegte. »Ja«, erklärte sie dann, »ich glaube schon. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir weg waren. Das heißt, wir sind bestimmt einkaufen gegangen und haben Besuche gemacht, aber …«
»Aber ihr wart prinzipiell zu Hause«, führte Katrín den Satz zu Ende. Die Frau nickte. »Erinnerst du dich an etwas Ungewöhnliches? Etwas, was damals passiert ist? Streitigkeiten, Schlägereien, Lärm, ungewöhnlich viele Besucher, vielleicht sogar mitten in der Nacht?«
»Wann? Im vergangenen Jahr zu Ostern?«
»Ja, vor allem am Ostermontag, vielleicht auch noch einen Tag danach, oder sogar die nächsten Tage.«
»Nein. Wie soll man sich denn auch an so etwas genau erinnern?«
»Nein«, seufzte Katrín, »das kann man wohl kaum erwarten. Aber kannst du dich erinnern, ob seitdem jemand die
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