Jud Sueß
und Kalküls kommt er hier nicht weiter. Und er hat jetzt diese Gedanken satt, und er will jetzt Ruhe haben vor diesen albernen Träumen, und er will jetzt das Gesicht seiner Mutter sehen.
Doch wie er geht, an der Schwelle des Zimmers, tritt ihm Rabbi Gabriel entgegen. Das massige Gesicht scheint minder steinern als sonst, weniger scharf über der platten Nase zacken die drei Falten, selbst sein Mißmut scheint gelöster, bewegter, menschlicher.
»Willst du mich anzeigen?« fragt er höhnisch. »Es kann deiner Karriere nur nützen, wenn du mich einem Kirchengericht übergibst, weil ich einen gebürtigen Christen so lang im falschen Glauben hielt.«
Und da Süß einen ungestümen Schritt vorwärts tut: »Oder willst du mit deiner Mutter rechten? Sie schelten, weil sie dir so lange schwieg? Ihr danken, daß sie dir einen so kavaliersmäßigen Vater gab?«
Eine wilde, unsinnige Wut steigt in Süß hoch. Wie kommt dieser Mann dazu, so ohne weiteres anzunehmen, daß er nun in ein bequemes Christentum schlüpfen wird? Wie steht er höhnisch da mit seinen trüben grauen Augen, die gipfelhoch auf einen niederschauen, wie ein Hofmeister, der den dummen Zögling über einer albern armseligen Ausrede ertappt. Will er ihm jetzt etwa seine jüdische Geburt abstreiten, sein Opfer, sein großes Spüren als Schaum und Lüge abtun, ihn um sein bestes Erbteil prellen?
Seine Empörung gegen den Rabbi, so dumpf sie war, war ehrlich. Zum erstenmal, spürte er, war er ohne Rabulistik gegenihn im Recht, zum erstenmal verhöhnte ihn jener ohne Grund. Ganz fort war die lähmende Enge, die sonst von dem Kabbalisten ausging, und plötzlich war der Entschluß da, der so lang gestaltlos im Dunkel sich versteckt hatte, sprang klar und sicher ins Licht, war da, selbstverständlich, unumstößlich.
Die Stimme frei, sachlich, sagte er: »Ich fahre nach Hirsau. Zu Naemi.«
Näher an Süß riß es den Überraschten. Heller das Gesicht, halb ungläubig, mit fast gutmütigem Scherz: »Als Rächer an Edom?«
Doch Süß blieb ruhig. Ohne Gereiztheit, zuversichtlich und fest sagte er: »Sie will mich sehen. Ich stelle mich ihr.«
Rabbi Gabriel nahm seine Hand. Sah sein Gesicht. Sah Unreines, Unwahres, Schutt. Sah darunter anderes. Sah unter Haut, Fleisch, Knochen zum erstenmal Licht.
»Sei es!« sagte er, schon klang seine Stimme wieder mißlaunig wie sonst. »Komm mit zu dem Kind!«
Viertes Buch
Der Herzog
Am Tiberiassee erging sich mit seinem Lieblingsschüler Chajjim Vital Calabrese der Meister der Kabbala, Rabbi Isaak Luria. Aus der Mirjamquelle tranken die Männer, fuhren hinaus auf den See. Der Meister sprach von seiner Lehre. Es schwebten die Geister über den Wassern, der Nachen stand still. Es war ein Wunder, daß er nicht sank; denn schwer vom Leben von Millionen war der Rabbi und sein Wort.
Zurück zum Quell der Mirjam kehrten die Männer. Und wieder tranken sie. Da änderte die Quelle plötzlich ihren Lauf. Einen Bogen in die Luft bildete sie, zwei senkrechte Strahlen, einen Querstrahl darüber. Hinein in den Bogen trat der Rabbi als dritter senkrechter Strahl. So ward aus ihm und dem Quell der Buchstab Schin, der Anfang des erhabensten Gottesnamens Schaddai. Und der Buchstab wuchs und wuchs und spannte sich über den See und spannte sich über die Welt. Als der Schüler Chajjim Vital zurückfand aus seiner Verwirrung, floß die Quelle wie früher, doch der Rabbi Isaak Luria war nicht mehr da.
Es war aber dieses Mittelglied des allerheiligsten Buchstabens das einzige, was er niedergeschrieben von seiner Lehre. Denn die Worte seiner Lehre fielen von seinen Lippen und waren wie Schnee. Er ist da, er ist weiß und leuchtet und kühlt; doch halten kann man ihn nicht. So fiel von seinem Mund die Lehre, und man konnte sie nicht halten. Der Rabbi schrieb sie nicht nieder und duldete auch nicht, daß ein anderer sie schrieb. Weil das Geschriebene verwandelt ist und der Tod des Gesprochenen. So ist auch die Schrift nicht das Wort Gottes, sondern Maske und Verzerrung und ist, was Holz ist vor dem lebendigen Baum. Erst im Mund des Wissenden steht sie auf und lebt.
Allein nachdem der Rabbi verschwunden war, konnte sich der Schüler nicht enthalten, die Lehre aufs Papier zu zeichnen mit den geschwätzigen, lügnerischen Zeichen der Schrift. Und er schrieb das Buch vom Lebensbaum, und er schrieb das Buch von den Verwandlungen der Seele.
Ach, wie weise war der Meister gewesen, daß er seine Erkenntnis nicht besudelt durch die Schrift, daß er
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