Judasbrut
Maria hörte, dass er nicht Deutsch redete.
»Oh,
das ist bestimmt dieser Dr. Cohen«, stellte Bennett fest, während er mit
spitzem Zeigefinger einen Keks auswählte. »Verwandtschaft aus Israel – mit
denen redet er immer in deren Muttersprache.«
»Seit
wann kennen Sie Dr. Leibl?«, fragte Maria im Plauderton.
Bennetts
Mund verzog sich zu einem strahlenden Lächeln. »Schon seit über 15 Jahren.
Wegen ihm bin ich nach Deutschland gekommen. Aber … «, er
beugte sich ein wenig vor, als teile er Maria ein Geheimnis mit, »… er wollte seinen
Bruder und Tamar nicht kompromittieren. Daher waren wir immer sehr diskret und
ich bin erst jetzt zu ihm gezogen.«
Mit
Daumen und Zeigefinger rieb sich Maria über die Nasenwurzel und bemühte sich,
die gedankliche Kurve zu kriegen.
»Tamar
war seine Schwägerin, oder?«, erkundigte sich Michelle neugierig. »Kannten Sie
sie?«
»Oh ja,
sie und sein Bruder waren sehr liebenswert und natürlich wussten sie Bescheid
über uns.« Bennett plauderte munter über die Familienverhältnisse. So erfuhren
sie, dass Leibl in den USA aufgewachsen war und studiert hatte, während sein
über zehn Jahre älterer Bruder mit seiner Frau nach Deutschland gegangen war.
Anfang der Siebziger nahm Leibl eine Stelle an der
Friedrich-Alexander-Universität an und wohnte fortan gemeinsam mit der Familie
seines Bruders in der Villa, die damals extra umgebaut wurde. Nach dem Tod
seines Bruders kümmerte er sich weiter um seine Schwägerin und den Rest der
Familie.
»Matthew
ist immer noch sehr … down , wegen Tamars Tod vor vier Monaten. Die Familie war
ihm immer wichtig. Und dann jetzt auch noch das.« Er drehte die Handflächen
nach oben. »Ich wollte ihn überreden, mit mir einen Urlaub zu machen, damit er
auf andere Gedanken kommt. Aber er ist sehr dickköpfig. Er sagt, er kann jetzt
nicht weg.«
»Wer kann
jetzt nicht weg?«, fragte Leibl, der in diesem Moment das Zimmer betrat.
» You,
dear ! Ich sagte gerade, ich möchte mit dir verreisen, aber du willst
nicht.«
Leibls
Lächeln war müde. »Wir fahren im Sommer, Bill. Das habe ich dir versprochen.
Also, Frau Ammon, machen wir weiter.«
»War
das gerade Dr. Cohen?«, fragte Maria sehr direkt.
Leibl
wirkte überrascht, doch Bennet bemerkte: »Das habe ich gerade zu Frau Ammon
gesagt. War das falsch?«
»Das
war selbstverständlich in Ordnung, Bill. Ja, es war Meir. Die Polizei war bei
ihm, um mit ihm zu sprechen.« Er formulierte es nicht als Frage, aber Maria
hörte deutlich zwischen den Zeilen heraus, dass er es als solche meinte.
»Es ist
reine Routine, Herr Professor«, antwortete sie. Cohen war am Nachmittag nicht
zu Hause gewesen – ein interessanter Aspekt in diesem Fall. »Glauben Sie eigentlich,
dass Ihre Nichte Sara und Dr. Meir Cohen eine Liebesbeziehung haben könnten?«
Leibls
Gesichtsausdruck änderte sich nicht. »Nein.«
»Sicher?«
Er
lächelte reserviert. »Sara war sehr erbost über Leonhards Verhalten. Glauben
Sie, dass sie in diesem Fall Gleiches mit Gleichem vergelten würde?«
Maria
ließ die rhetorische Frage unbeantwortet, beschloss aber, diese Möglichkeit
trotzdem im Auge zu behalten. Jetzt konzentrierte sie sich auf Leibl
persönlich. Er war den ganzen Tag im Institut gewesen, bis er darüber
informiert wurde, was geschehen war. Er war ratlos, ja geradezu entsetzt
darüber, dass Sara sich nun Bianca als Zielscheibe ausgesucht haben sollte.
Eine Vorstellung, wo sich Sara oder Bianca nun befinden konnten, hatte er
nicht. Nach einer knappen halben Stunde schwirrte Maria der Kopf vor Müdigkeit.
Es war Zeit aufzuhören, daher verabschiedeten sie sich von Leibl und seinem
Freund. Das Haus und seine Bewohner würden vorläufig unter Beobachtung stehen,
ebenso Cohen. Dessen Alibi musste noch überprüft werden. Er sei am Nachmittag
in einem großen Möbelhaus in Fürth-Poppenreuth gewesen, angeblich, um sich eine
neue Küche planen zu lassen.
Nach
einem Anruf bei Jochen erfuhr sie erleichtert, dass er sich um alles Notwendige
gekümmert hatte und sie erst einmal Feierabend machen konnte. Sie war froh, als
sie und Michelle endlich im Wagen saßen.
Während
Michelle sich anschnallte, schlug sie sich plötzlich mit der flachen Hand vor
die Stirn. »Mensch, in der Aufregung heute Nachmittag hab ich ganz vergessen,
dir was zu sagen. Die Frau Schreiber – Gudrun
Schreiber, die Obdachlose, die ertrunken ist … « Sie
machte eine kunstvolle Pause, wohl um sicherzugehen, dass Maria auch genau
wusste, welche
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