Judastöchter
auf ein Knie herab und betrachtete die Stelle genauer.
Es waren die Umrisse eines Körpers, von der Größe her passte er zu Elena; daneben sah sie Abdrücke von Knien und Schuhspitzen.
Kein Profil.
Der gleiche Mann, denn das war aufgrund der Sohlenform und der Größe klar ersichtlich, hatte die Person vom Boden aufgehoben und weggetragen. Sia erkannte es an den Spuren, die sich tiefer als vorher im Schnee abzeichneten. Kleine Löcher und Rillen im Weiß verrieten, dass einem oder sogar beiden Wasser aus der Kleidung getropft war.
War es wirklich Elena?
Die Selbstvorwürfe wurden lauter. Sia schaute zum Bassin und den darin treibenden Schollen.
Ist sie eingebrochen, und hat sie der Mann gerettet?
Die Spuren legten diese Vermutung sehr nahe, und wenn es so gewesen war, wäre
ihr
die Aufgabe zugekommen, ihre Nichte vor dem Ertrinken und dem Erfrierungstod zu bewahren. Nicht dem Fremden.
Sie richtete sich auf, kehrte den Schnee von den Knien und nahm Elenas Rucksack über die Schulter. Damit hatte sie einen Anhaltspunkt: Wohin brachte man unterkühlte und durchnässte Kinder? In ein Krankenhaus – und schon stutzte sie. Die nächste Einrichtung war die Klinik, in der sie arbeitete und wo Emma lag.
Wäre Elena bei Bewusstsein gewesen, hätte sie darum gebeten, dorthin gebracht zu werden. Also war sie entweder ohnmächtig, oder er hat sie woanders hingebracht.
An das zweite
oder
dachte sie zwar ebenso für einen kurzen Moment, verdrängte es aber. Sia verfolgte die Fußspur über den Hügel, den sie eben gekommen war. Die Sohlenabdrücke führten sie hinab zur Straße und endeten dort.
Im Auto weggefahren.
Sie ersparte es sich, Leipzigs Krankenhäuser persönlich abzuklappern, sondern nahm ihr Telefon heraus, rief eines nach dem anderen an und erkundigte sich, ob ein Mädchen von einem Mann eingeliefert worden sei: nass, unterkühlt, vielleicht mit Atemstillstand oder halb ertrunken?
Während sie sich eine Abfuhr nach der anderen einhandelte, kehrte sie zum Bassin zurück und suchte fieberhaft nach weiteren Spuren, die ihr helfen konnten, die Identität des Unbekannten zu lüften.
Leider näherte sich mit jedem Anruf das
oder
als Möglichkeit, das sie vorher verdrängt hatte.
Sia umrundete das Becken und fand eine Sache bemerkenswert: Von beiden Seiten und etwa auf gleicher Höhe näherten sich identische grobe Stollenprofile, sprangen auf die Einfassung, von da aufs Eis – und zwar in den Bereich, der abgesperrt und aufgebrochen war. An weitere Helfer, die Elena zu Hilfe kommen wollten, glaubte sie nicht. Bauchgefühl.
Verfolger.
Sie fluchte laut und blickte sich um. Keine Überwachungskamera, keine Webcam, von der sie sich rasch Aufschluss erhoffen konnte. Auch das letzte angerufene Krankenhaus hatte nichts an Einlieferungen auf Lager, das zu Elena passte.
Trisha hatte vorhin am Telefon nichts davon erwähnt, dass sie von Männern bedrängt worden wären.
Verdammt noch mal: Was ist hier passiert?
Es hatte sich abgespielt, nachdem die Freundin gegangen war. Die Spuren boten zu viel Raum für Spekulation, leider war keine davon besonders beruhigend. Sia war aufgewühlt und unruhig. Sie musste zu ihrer Nichte, sofort!
Es gab weitere Möglichkeiten, die sie ab jetzt als Erklärung des Verschwindens in Betracht ziehen musste. Hässliche Varianten:
1., ein gewöhnlicher Päderast, der vom Retter zum Täter werden wollte und auf die Dankbarkeit eines Mädchens zählte;
2., die Schergen ihres toten Halbbruders Marek, die ihr nachträglich Schaden zufügen sollten;
3., irgendwelche Gehilfen des ebenso toten Harm Byrne, der nach dem Leben von Sia, Elena und Emma getrachtet hatte.
Nichts davon gefiel ihr.
Wie finde ich heraus, was am wahrscheinlichsten ist?
Sia grübelte und klammerte Marek aus. Die Sache war zu lange her. Die Angelegenheit mit Byrne konnte damit etwas zu tun haben, und leider blieb auch die Theorie des Kinderfickers aktuell.
Auch wenn es ihr nicht passte, schon wieder etwas mit der Polizei zu tun zu bekommen, würde sie eine Vermisstenanzeige nach Elena aufgeben.
Noch besser ist, wenn ich anonym eine Entführung melde. Dann müssen die Bullen gleich was tun.
Sicherheitshalber verfolgte Sia die groben Profilabdrücke zurück. Sie landete auf einem Parkplatz und bei der Erkenntnis, dass nur die beiden Männer im gleichen Fahrzeug eingetroffen waren. Damit waren die Stollenschuhe und der Profillose nicht an den gleichen Orten aufgetaucht.
Sie haben sich aufgeteilt. Sie hatten es von
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