Judaswiege: Thriller
den Baumwipfeln aufzuknüpfen wie ein Segel. Sams Magen zog sich zusammen, als er sich fragte, wann sie das nächste vermisste Mädchen finden würden. Die Frage, ob es überhaupt ein weiteres Opfer geben würde, stellte er sich nicht.
»Im Mittelalter haben sie«, las Wesley von seinem Telefon ab, »solche Pfählungen bei den Hexenprozessen eingesetzt. Im Internet gibt es tonnenweise Material dazu, und die Methode hatte einen Namen.«
Sam blickte nach hinten, und Wesley hielt ihm den kleinen Bildschirm vor die Augen, der einen einfachen Baumstamm zeigte, der gespitzt war wie ein Bleistift.
»Sie nannten es die Judaswiege.«
K APITEL 14
Juni 2011
Baton Rouge, Louisiana
Bevor er die Innenstadt erreichte, hielt der schwarze Van an einer Tankstelle. Der Mann stieg aus und ging mit gesenktem Kopf um den Wagen, nahm den Hahn von der Zapfsäule und wählte eine Fünfzig-Dollar-Füllung. Während das Benzin durch den Schlauch strömte, pulte er sich einen Rest Beef Jerky aus den Zähnen und betrachtete eine junge Frau, die ungeschickt mit einem Reifendruckgerät hantierte. Ihr Haar fiel ihr in wasserstoffblonden Locken auf die Schultern, sie strich es immer wieder aus dem Gesicht, offensichtlich störte die Haarpracht beim Ablesen der Druckskala. Noch als sein Tank längst gefüllt war, stand der Mann, der einen typischen Handwerker-Overall trug, an seiner Säule und starrte ihr auf die Fußfesseln. Sie stöckelte linkisch auf den Plateaus um ihr Cabrio herum. Der Mann pfiff durch die gesäuberten Zähne und entfernte den Schlauch, bevor es zu auffällig wurde. Er bezahlte mit einem verknitterten Fünfzig-Dollar-Schein bei einem gelangweilten Hispano, der unablässig mit den Fingern auf der Schublade seiner Kasse herumtrommelte. Der Mann mochte den Hispano nicht. Im Vorbeigehen beobachtete er aus dem Augenwinkel, wie die Frau die Plastikkappe auf das Ventil ihres rechten Hinterreifens schraubte. Sie betrachtete angewidert ihre vom Bremsstaub und Gummiabrieb ihrer Reifen verschmutzten Hände und sah sich nach einer Waschmöglichkeit um. Ihr Blick blieb kurz an ihm hängen, er lächelte. Sie erwiderte sein Lächeln nicht. Das taten sie nie. Schließlich tauchte sie die Fingerkuppen in einen Eimer mit Scheibenputzwasser und trocknete sie mit einem Papiertaschentuch. Dann stieg sie in ihr Auto. Dass so lange Beine dort reinpassen, murmelte der Mann hinter dem Steuer seines Lieferwagens und folgte dem Cabrio zur Ausfahrt.
Auf dem Highway in die Stadt vertrieb er die Gedanken an die Wasserstoffblondine und langte nach einem Foto, das auf dem Beifahrersitz unter den Comics gelegen hatte. Er klemmte es zwischen Daumen und Lenkrad und betrachtete die junge Frau, die sich auf dem Campus ihres Colleges mit einer Freundin unterhielt und einen Stapel Bücher unter dem Arm trug. Ich brauche noch mehr Bilder von dir, Tina, dachte der Mann in dem Lieferwagen. Er suchte ein zweites Foto in dem Stapel, der unter den Comics lag. Wieder betrachtete er es im ruhigen Verkehrsfluss des Highways an einem regulären Wochentag. Oder fahren wir zuerst zu dir, Ashley? Auch von dir wissen wir noch viel zu wenig, meinst du nicht? Er wog ab: Tina oder Ashley? Wie schade, dass ihr nicht auf das gleiche College geht. Ashley arbeitete in einem Fotogeschäft. Welche Ironie. Tina gefiel ihm viel besser als Ashley. Aber konnte er es sich leisten, rein nach seinem Geschmack zu gehen? Es ging doch um etwas viel Wichtigeres, oder nicht? Seit einiger Zeit war er nicht mehr so sicher, was das anging. Eigentlich war es ihm egal. Aber war es ihnen egal? Darauf wusste er erst recht keine Antwort, und deshalb entschied er sich, eine Münze zu werfen. Er drückte das Becken nach oben, um in die Tiefen seiner Hosentasche zu gelangen, sein Wagen schwankte bedrohlich, er wäre beinah mit einem Pick-up auf der mittleren Spur kollidiert. Der Pick-up hupte. Er fand einen Quarter-Dollar und lenkte den Wagen wieder in die Mitte der Fahrbahn. Kopf für Tina, Zahl für Ashley, sagte er laut, während im Radio ein IronMaiden-Song lief. Er warf die Münze in die Luft, sie kullerte unter den Beifahrersitz. »Fuck«, rief der Mann mitten in ein Gitarrensolo. Bei der nächsten Ausfahrt verließ er die Autobahn. Münze war Münze. Er hielt auf dem ersten Seitenstreifen, der breit genug war, und kroch unter den Beifahrersitz, bis er die Münze gefunden hatte. Zahl. Das war nicht gut. Aber was wissen die schon, wie die Münze gefallen ist?, grübelte er. Sie wussten ja
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