Judith McNaught
Sie mir, etwas zu essen.« Sie nickte, und er wandte sich
zum Gehen.
»Danke«, sagte sie ruhig. Er drehte
sich verwirrt um.
»Für was?«
Sie schaute ihn mit ihren hellen
Augen an. Ihr Blick ging so tief, daß Stephen flüchtig den Eindruck hatte, er
könne mit der Zeit direkt in seine schwarze Seele dringen. Bis jetzt hatte sie
ihn jedoch anscheinend noch nicht durchschaut, denn ihre weichen Lippen
verzogen sich zu einem warmen Lächeln. »Dafür, daß Sie die ganze Nacht über bei
mir geblieben sind.«
Ihre Dankbarkeit erhöhte nur seine
Schuldgefühle, und er kam sich vor wie ein Schuft, weil er zuließ, daß sie in
ihm den edlen weißen Ritter statt des schwarzen Schurken sah, der er in
Wirklichkeit war. Er neigte den Kopf zu einer spöttisch angedeuteten
Verbeugung, grinste sie frech an und erlaubte ihr einen Einblick in seinen
wahren Charakter. »Zum ersten Mal hat sich eine wunderschöne Frau dafür
bedankt, daß ich die Nacht mit ihr verbracht habe.«
Sie blickte ihn nur verwirrt, nicht
erschreckt an, was jedoch Stephens Gefühl der Erleichterung nicht minderte. Er
hatte dieses heikle Geständnis über seine wahre Natur nicht gemacht, weil er
Absolution suchte oder brauchte, oder weil er Buße tun wollte. Für ihn zählte
in diesem Augenblick nur, daß er sich ihr gegenüber aufrichtig gezeigt hatte, und
das versöhnte ihn ein wenig mit sich selbst.
Während er den breiten Korridor zu
seinem Zimmer entlangging, fühlte sich Stephen zum ersten Mal seit Wochen,
nein Monaten, vollkommen glücklich: Charise Lancaster würde wieder völlig
gesund werden. Da war er sich ganz sicher. Sie würde überleben, und das
bedeutete, daß er nun ihren Vater von dem Unfall verständigen und ihm gleich
versichern konnte, daß sie wieder gesund würde. Zuerst müßte er ihn natürlich
noch ausfindig machen, aber diese Aufgabe konnte er Matthew Bennett und seinen
Leuten übertragen.
Elftes Kapitel
Stephen blickte von dem Brief auf, den er
gerade las, und nickte dem blonden Mann Anfang dreißig, der auf ihn zukam,
grüßend zu. »Es tut mir leid, daß ich Ihre Ferien in Paris unterbrechen mußte«,
sagte er zu Matthew Bennett, »aber die Angelegenheit ist dringend und so
delikat, daß sie Ihre persönliche Anwesenheit erfordert.«
»Ich freue mich, wenn ich Ihnen
helfen kann, Mylord«, erwiderte der Anwalt ohne Zögern. Der Earl wies auf
einen Ledersessel vor seinem Schreibtisch, und Matthew setzte sich. Er war
weder beleidigt noch überrascht, daß der Mann, der ihn aus seinem
wohlverdienten Urlaub geholt hatte, ihn jetzt warten ließ, während er seine
Post zu Ende durchlas. Seit Generationen besaß Matthews Familie das Privileg,
die Westmorelands anwaltlich zu vertreten, und Matthew wußte, daß diese Ehre
und die damit verbundenen hohen Einkünfte die Verpflichtung mit sich brachten,
zur Verfügung zu stehen, wann immer der Earl of Langford es wünschte.
Obwohl Matthew nur als Juniorpartner
in dem Familienunternehmen arbeitete, war er mit den geschäftlichen Angelegenheiten
der Westmorelands vertraut. Vor einigen Jahren hatte man ihn sogar damit
beauftragt, einen ungewöhnlichen und privaten Fall für den Bruder des Earls,
den Duke of Claymore, zu behandeln. Damals war Matthew ein wenig
eingeschüchtert und unsicher gewesen, als ihn der Herzog zu sich bestellt
hatte, und als er von der Art seines Auftrags erfuhr, hatte er einen peinlichen
Mangel an Haltung bewiesen. Mittlerweile jedoch war er älter und klüger, und
er fühlte sich ziemlich sicher, mit jeder noch so »delikaten« Angelegenheit
des Earls umgehen zu können, ohne auch nur die geringste Überraschung zu
zeigen.
Und so wartete er völlig gelassen
darauf, zu erfahren, welche so dringende Angelegenheit seine persönliche
Anwesenheit erforderte, bereit, einen Ratschlag wegen eines Vertrags oder
vielleicht sogar einer Testamentsänderung zu erteilen. Da das Wort »delikat«
gefallen war, handelte es möglicherweise um eine Angelegenheit persönlicher
Natur – vielleicht wollte der Earl seiner derzeitigen Geliebten eine Geldsumme
und Grundbesitz überschreiben oder ihr ein vertrauliches, großzügiges Geschenk
machen.
Um Bennett nicht länger warten zu
lassen, legte Stephen den Brief seines Besitzverwalters in Northumberland beiseite.
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und betrachtete zerstreut die mit
Fresken verzierte Stuckdecke über seinem Kopf. Seine Gedanken wanderten vom
Brief seines Verwalters hin zu dem komplizierteren Problem Charise
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