Judith McNaught
Schlafzimmer durchquerte, vorbei an verblüfften Lakaien, die
sich alle mit offenem Mund nach ihr umdrehten. Gerade, als sie dachte, daß sie
jetzt endlich im Wohnbereich des Hauses angekommen sein mußte, erreichte sie
einen Treppenabgang mit einem weißen Marmorgeländer, das sich in einer weiten,
anmutigen Spirale noch zwei Stockwerke bis zu einer riesigen Eingangshalle
hinunterwand.
Sie raffte ihr Kleid und eilte die
Treppe hinunter, vorbei an gerahmten Porträts von mindestens sechzehn Generationen
von Vorfahren des arroganten Earls. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wo er
war, noch wie er sich vorstellte, daß sie ihn finden sollte. Das einzige, was
sie neben all seinen anderen Charaktereigenschaften mit Sicherheit von ihm zu
sagen wußte, war, daß er mit ihr geredet hatte, als sei sie seine Leibeigene,
und daß er die Androhung, sie wie einen Sack Mehl vor seinen Bediensteten die
Treppe hinunterzuschleifen, sicher wahr machen würde, wenn sie sein Ultimatum
nicht einhielt.
Um ihm dieses Vergnügen nicht zu
gönnen, hätte sie alles getan. Sie wunderte sich darüber, wie sie bei gesundem
Verstand zugestimmt haben konnte, sich lebenslang an einen solchen Mann zu
binden. Sobald ihr Vater hierherkäme, würde sie die Verlobung auflösen und ihn
bitten, sie sofort mit nach Hause zu nehmen.
Sie mochte den Earl nicht, und sie
war sich vollkommen sicher, daß sie auch seiner Mama nicht ähnelte. Die Zofe hatte
gesagt, das Kleid gehöre der Mutter des Earls. Die Vorstellung erschreckte
Sherry, daß eine ältere Matrone wie seine Mutter oder sonst eine respektable
Frau auf Bällen und vor Besuchern in diesem hauchdünnen, frivolen violetten
Kleid herumstolzieren konnte, dessen Mieder nur von Silberbändern zusammengehalten
wurde. Sie war so ärgerlich und so mit ihrem Kummer beschäftigt, daß sie der
Pracht der großen Halle mit ihren vier riesigen Kronleuchtern, die wie
Diamanten glitzerten, den exquisiten Fresken an den Wänden und den Stuckdecken
nicht einmal einen flüchtigen Blick schenkte.
Als sie sich der untersten Stufe
näherte, sah sie einen älteren Mann im schwarzen Anzug mit weißem Hemd, der in
einen Raum zur Linken der Haupthalle eilte. »Sie haben geläutet, Mylord?«,
hörte sie ihn sagen. Einen Augenblick später kam er rückwärts wieder heraus,
verbeugte sich ehrfürchtig und schloß die Türen. »Entschuldigen Sie ...«,
begann Sherry ungeschickt. Dabei trat sie auf den Saum ihres Kleides und mußte
sich an der Wand abstützen, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen.
Er drehte sich um, sah sie und
erstarrte. In seinem Gesicht zuckte es, als stünde er unter Schock.
»Mir geht es sehr gut«, versicherte
Sheridan ihm hastig. Sie richtete sich wieder auf und zog den Saum unter ihrem
linken Fuß hervor. Da er immer noch ein bißchen erstaunt aussah, streckte
Sheridan ihm die Hand entgegen und sagte: »Dr. Whitticomb meinte, ich sei
wieder so gesund, daß ich herunterkommen kann. Wir haben uns noch nicht
kennengelernt, aber ich bin Charise ... hm ... Lancaster«, erinnerte sie sich
nach einer peinlichen Pause. Er hob ihr die Hand entgegen, und da er nicht zu
wissen schien, was er als nächstes tun sollte, ergriff sie sie und fragte
höflich lächelnd: »Und Sie sind ...?«
»Hodgkin«, antwortete er, wobei er
klang, als stecke ihm ein Kloß im Hals. Dann räusperte er sich und sagte noch
einmal: »Hodgkin.«
»Ich freue mich, Sie kennenzulernen,
Mr. Hodgkin.«
»Nein, Miss, nur 'Hodgkin'.«
»Ich kann Sie doch nicht nur mit
Ihrem Nachnamen anreden. Das wäre nicht besonders respektvoll«, sagte Sheridan
geduldig.
»Das ist hier so Brauch«, erwiderte
er. Er wirkte beunruhigt.
Sheridan griff mit der linken Hand
nach dem Vorderteil ihres Kleides. »Das sieht diesem arroganten Ungeheuer ähnlich,
einem alten Mann die Würde zu versagen, mit 'Mister' angeredet zu werden.«
Hodgkins Gesicht verzerrte sich
wieder, und er reckte den Hals, als bekäme er keine Luft. »Ich weiß absolut
nicht, von wem Sie sprechen, Miss.«
»Ich spreche von ...« Sheridan mußte
erst nachdenken, um sich an die Antwort der Zofe zu erinnern, als sie sie nach
dem Namen des Earls gefragt hatte. Es kam ihr so vor, als habe das Mädchen eine
ganze Litanei von Namen heruntergebetet, aber sein Familienname lautete ...
Westmoreland! Das war es! »Ich spreche von Westmoreland!« sagte sie und
versagte auch seinem Namen die Würde des Titels. »Jemand hätte ihm das
Hinterteil versohlen und ihm die Grundregeln der
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