Julia Ärzte zum Verlieben Band 53
Kriegsgebiet.
Der Albtraum nahm eine grausame Wendung. Noch während Finn rannte und verzweifelt darauf hoffte, Isaac zu finden, war ihm klar, dass jeden Moment der Schlag kommen musste, der ihn selbst traf. Er würde für kurze Zeit das Bewusstsein verlieren und mit rasenden Schmerzen wieder aufwachen.
Doch das war noch nicht das Schlimmste. Er wusste auch, dass er Angst und Schmerzen überwinden und sich weiterschleppen würde.
Um Isaac zu finden.
Um seinen geliebten Bruder in den Armen zu halten, wenn er starb.
Die Trauer riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Der Traum verblasste. Nicht im Schlaf und auch nicht in seinem Leben konnte Finn den Augenblick überwinden, in dem seine Fähigkeit, zu fühlen, zusammen mit Isaac gestorben war.
Erinnerungsfetzen aus dem Albtraum verfolgten ihn immer noch – die Geräusche, Bilder, Gerüche, Angst und Leid. Es gab nur einen Weg, dem zu entkommen.
Stöhnend richtete Finn sich auf. Die Decke zurückschlagen, die Beine aus dem Bett schwingen, sich auf die Bettkante setzen, den Kopf in den Händen vergraben, all das tat er automatisch während des Traums, ohne es richtig wahrzunehmen. Und wie immer sah er auch jetzt auf den Wecker. Drei Uhr morgens.
Viel zu früh, um bei zügigen Runden in klarem, kaltem Wasser die Gespenster der Nacht zu vergessen.
Aber in seiner Wohnung hielt er es nicht aus, hier würde er ersticken. Gut, dass es einen Plan B gab. Einer, der ihn schon ein paar Mal gerettet hatte.
Zu den Apartments von Kirribilli Views gehörten Feuertreppen an einer Ecke des Gebäudes. Auf jedem Absatz gut beleuchtet, damit sich niemand im Ernstfall das Genick brach, zogen sich die nackten Betonstufen Stockwerk für Stockwerk hinauf. Um diese Zeit hielt sich niemand dort auf, und ganz bestimmt kam auch niemand auf die Idee, vom Penthouse bis zum Erdgeschoss hinunterzulaufen, kehrtzumachen und wieder nach oben zu rennen.
Angekommen gönnte er sich eine kurze Atempause und lief wieder nach unten.
Und nach oben.
Es dauerte eine Weile, bis die Erinnerungen, die der Albtraum heraufbeschworen hatte, wieder sicher verstaut waren. Es blieb ja nicht bei den Bildern von der Tragödie, die die letzten zehn Jahre seines Lebens bestimmt hatte. Sie zogen hässliche Schuldgefühle nach, Selbstvorwürfe, mit denen er leben musste, aber nur schwer leben konnte.
Die erste Runde auf den Treppen brauchte er, um den Granatenhagel zu vergessen, in dem Isaac gestorben war. Die Zweite war immer für Lydia … Isaacs Witwe, die einzige Verbindung zu seinem Bruder. Finn hatte nicht vergessen, dass er Lydia benutzt hatte. Erst als sie stark genug war, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, trennte sie sich von ihm.
Du willst mich nur, weil ich dich an Isaac erinnere. Ich möchte weiterleben, Finn, sonst gehe ich unter.
Danach dienten seine Beziehungen nur einem Zweck: Er wollte vergessen. Er hatte keine Ahnung, warum Frauen ihn attraktiv fanden, aber er nutzte es aus, wenn die innere Anspannung unerträglich wurde. Weil Sex die Erlösung brachte …
Finn erinnerte sich nicht einmal mehr an alle Namen. Wieder sprintete er, zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben. Langsam ließen seine Kräfte nach, bald würde die betäubende Erschöpfung einsetzen, die er herbeisehnte.
Mariette … das war vor zwei Monaten gewesen. Sie war jetzt mit dem jungen Kollegen aus der Pädiatrie zusammen und hoffentlich glücklich. Was man von seiner letzten Affäre nicht behaupten konnte. Letzte Woche hatte er sich von der Kleinen getrennt, und sie war in Tränen ausgebrochen.
Vielleicht war er deswegen unfreundlich zu ihr gewesen, aber er konnte Tränen nun einmal nicht ausstehen. Sie waren nur ein Zeichen von Schwäche. Was wollte sie damit erreichen? Dass er Abbitte leistete für das, was er gesagt oder getan hatte? Dass er Mitgefühl zeigte? Ausgeschlossen. Die Gefühle anderer interessierten ihn nicht.
Auch nicht bei Evie?
Er verdrängte den rebellischen Gedanken. Gerade bei Evie .
Emotionen störten nur. Auch als Arzt konnte er den Menschen besser helfen, wenn er professionelle Distanz wahrte.
Finn musste erst Atem schöpfen, bevor er die Stufen zur Penthouse-Etage anging. Beton war kaum der geeignete Untergrund zum Joggen. Ein bohrender Schmerz strahlte von Finns verspanntem Nacken bis in die Schultern aus. Sehr gut. Das würde ihm helfen, zu vergessen. Vorerst.
Keuchend lehnte er an der Wand. Für den letzten Abschnitt hatte er keine Kraft mehr. Da hörte er Schritte.
Wer, zum Teufel,
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