Julia Ärzte zum Verlieben Band 54
Mitschüler und Lehrer terrorisiert hat. Einer von denen, die immer alles bestimmen wollen.“
Unbemerkt waren sie immer weiter aufeinander zugetrieben. So viel also zu Sophies festem Vorsatz, Abstand zu ihm zu halten. Gespannt wartete sie auf seine Antwort.
Levis Gesicht hatte sich verfinstert. „Ja, es war und ist netter, zu den Gewinnern zu gehören. Aber ich habe niemals andere gepiesackt oder meine Überlegenheit ausgenutzt.“
Sie schnalzte mit der Zunge, paddelte noch näher an ihn heran. „Das behaupten alle Tyrannen.“
Er schüttelte den Kopf. „Mein Vater war ein Tyrann, der meine Mutter immer sehr schlecht behandelt hat. Er zwang sie sogar mehr oder weniger, noch ein Baby zu bekommen, obwohl sie sich von Odettes Geburt noch gar nicht erholt hatte. Dabei ist sie gestorben, und ich habe mir geschworen, ihm das niemals zu verzeihen. Anscheinend war mein Großvater auch kein besonders netter Kerl, also lag es vielleicht in der Familie.“
Dieser Einblick in Levis Kindheit kam für Sophie völlig unerwartet. Es überraschte sie, wie viel Zuneigung und Mitgefühl sie bei seinen Worten für ihn empfand. Bisher war ihr gar nicht aufgefallen, dass sie eine mütterliche Seite hatte. Besonders wohl fühlte sie sich allerdings nicht dabei. Sie wollte ihn schließlich nicht näher kennenlernen. Wirklich nicht!
In diesem Moment lieferte sich ein leuchtend grüner Wellensittich mit einem Artgenossen ein lautstarkes Gefecht in einem Baum über ihnen. Während Sophie nach oben blickte, überlegte sie angestrengt, wie sie das Thema wechseln konnte.
„Hat dein Vater dir das Leben sehr schwer gemacht?“ Nicht gerade eine geeignete Frage, um die Unterhaltung in unverfänglichere Bahnen zu lenken.
„Nein. Mir nicht. Ich war die meiste Zeit im Internat. Aber ich hatte einen älteren Bruder, Kyle, der in den Ferien bevorzugt Opfer meines Vaters wurde. Kyle war der sanfteste und freundlichste Mensch, den man sich vorstellen kann. Er hat sich immer vor mich gestellt, um mich vor meinem Vater zu beschützen. Es war Kyle, der mir den Unterschied zwischen gutem und schlechtem Benehmen gezeigt und mir Anstand und Aufrichtigkeit beigebracht hat. Dafür werde ich ihm ewig dankbar sein.“
„Du sagtest, er ‚war‘ der sanfteste Mensch?“
„Er starb, als ich dreizehn war. Kyle litt an einer Makuladegeneration und war schon als Teenager erblindet. Eines Tages wurde er von einem Lastwagen überfahren. Mein Vater hat danach immer behauptet, Kyle habe es absichtlich getan. Ich habe ihn jedes Mal angeschrien und einen Lügner genannt.“ Nachdenklich strich er über die kleine Narbe an seinem Kinn.
Wie gern hätte Sophie die Hand ausgestreckt, um ihn tröstend zu streicheln. „Was glaubst du denn?“
Grimmig sah er sie an. „Niemals! Kyle hätte so etwas nie getan. Natürlich litt er unter seiner Erblindung, aber er hat uns viel zu sehr geliebt, als dass er uns freiwillig allein gelassen hätte.“
Sie konnte sich gut vorstellen, wie schwer es für den dreizehnjährigen Levi gewesen sein musste, erst seine Mutter und dann den geliebten großen Bruder zu verlieren.
„Natürlich habe ich anschließend die Beschützerrolle übernommen und aufgepasst, dass Odette nicht unter unserem Vater leiden musste.“ Wieder rieb er sich das Kinn. Sophie fragte sich, ob die Verletzung die Folge einer Auseinandersetzung mit seinem Vater gewesen war. Kein Wunder, dass er sich so um Odette sorgte. Offenbar wollte er sie genauso beschützen, wie Kyle ihn beschützt hatte.
„Ihr hattet eine schwere Zeit …“
Er zuckte die Schultern. „Man wird eben durch die Erlebnisse in seiner Kindheit geprägt.“ Abrupt schüttelte Levi sich die Wassertropfen aus dem Haar, als wollte er damit auch die Vergangenheit abschütteln. „Was ist mit deiner Familie? Gibt es nur noch Smiley und dich?“
„Ja, Smiley und ich sind allein. Unsere Eltern starben vor vier Jahren. Ein Autounfall. Zum Glück waren wir beide schon erwachsen. Er und ich, wir kommen gut miteinander aus.“
„Smiley. Ein toller Name.“
Ein toller Name für einen außergewöhnlichen Menschen. Mit seiner gelassenen, beständigen Art war Smiley der ruhende Pol in Sophies Leben. Der einzige Mensch, auf den sie sich rückhaltlos verlassen konnte und dem sie voll vertraute. Aber stimmte das? War ihr Bruder wirklich der einzige? Sophie musste sich eingestehen, dass auch Levi sich als sehr zuverlässig erwiesen hatte. War es denkbar, dass sie ihm eines Tages vertrauen würde?
Er
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