Julia Arztroman Band 62
ziemlich umständlich, wenn Toby mich jedes Mal so offiziell anredet. Kann er mich nicht einfach auch Libby nennen?“
„Na klar, wenn es dir recht ist“, antwortete Nathan. „Aber vielleicht nicht gerade heute Morgen vor der ganzen Schule.“
„Nein, das stimmt. Aber danach ist es völlig in Ordnung.“ Libby wünschte, sie könnten sich unterhalten, ohne dass es immer so steif und formell wirkte.
„Ich muss los“, sagte sie dann. „Ich habe noch eine Patientin, bevor ich zur Schule gehe. Patrice Lewis ist Hugos Schwester. Sie hat ihren Mann ungefähr zur selben Zeit verloren, als Ian starb, und muss nun allein für ihre zwei kleinen Mädchen sorgen. Sie ist sehr sensibel und schafft es nicht immer, ihre Trauer zu bewältigen. Deshalb ist Hugo hergekommen, um sie solange zu unterstützen, bis sie wieder auf eigenen Füßen stehen kann. Einmal im Monat kommt sie zu mir zum Reden und um sich ein neues Rezept ausstellen zu lassen.“
Sie lächelte zaghaft. „Wir sehen uns also später in der Schule.“ Damit eilte sie in die Praxis zurück.
Die Schulaula hatte sich bereits gefüllt, als Libby ankam. Ganz vorne waren die Grundschüler, dahinter die älteren Schüler, und ganz hinten diejenigen Eltern, die ihre Kinder begleiten konnten.
Toby saß in der allerersten Reihe, sein Obstkörbchen fest auf dem Schoß. Libby, die oben auf der Bühne Platz nahm, lächelte ihm zu. Sie hatte den Versuch aufgegeben, sich emotional nicht zu sehr auf ihn einzulassen. Natürlich wollte sie den Kleinen glücklich sehen.
Nathan, der sich im hinteren Bereich befand, bemerkte ihr Lächeln, und seine Gedanken gingen in eine ähnliche Richtung. Wenn Libby dem Jungen die Liebe und Zärtlichkeit schenken konnte, die ihm von seiner Mutter fehlten, könnte dies die traurige Lücke in seinem jungen Leben vielleicht schließen. Immerhin wohnte sie gleich nebenan, so nah, wie es nur irgend möglich war.
Ihm gegenüber hatte sie keine derartigen Gefühle, das wusste Nathan nur allzu gut. Aber es war noch früh, und die Zeit arbeitete für ihn. Toby und er würden hier bleiben, und Libby hoffentlich auch.
Sie und die Direktorin saßen an einem langen Holztisch, der mit einem weißen Tuch bedeckt war. Nacheinander kamen die Schüler auf die Bühne, wo Libby ihre Gaben mit einem Lächeln für jedes der Kinder in Empfang nahm.
Nachdem der Letzte seine Erntegabe gebracht hatte, legte Libby ihr Geschenk, einen großen Brotlaib in der Form einer Getreidegarbe, mitten auf den Tisch. Danach wurde ein kurzer Dankgottesdienst abgehalten.
Kurz vor halb zehn sah sie, wie Nathan die Aula verließ, um seinen Dienst in der Praxis anzutreten. Was er hinter seiner höflichen Art wohl über mich denkt? fragte sie sich. Vielleicht hielt er sie für eine verwitwete, herrische Frau, die nicht verzeihen konnte? Unwillkürlich schossen ihr Tränen in die Augen. Sie wollte nicht, dass er sie so sah, aber es war die einzige Möglichkeit, ihre wahren Gefühle zu verbergen.
Auf dem Weg zur Praxis dachte Nathan an das Bild von Libby, die mit ihrem blauen Kleid oben auf der Bühne gesessen hatte. Wie gut, dass sie am Abend zuvor alte Kleidung angehabt hatte, als er sie auffing. Sonst hätte er womöglich vergessen, genügend Abstand zu ihr zu wahren, und stattdessen alles ruiniert, indem er sie leidenschaftlich geküsst hätte – wie damals auf dem Flugplatz.
Die goldenen Herbsttage schwanden allmählich, und abends und frühmorgens herrschte bereits winterliche Kühle.
Da meinte Nathan eines Tages zu Libby: „Ist es in Ordnung, wenn ich alle Mitarbeiter zusammenrufe, um eine Ankündigung zu machen, bevor wir mit der Arbeit anfangen?“
„Natürlich.“ Libby fürchtete, er würde seinen Kollegen mitteilen, dass er wieder wegziehen wollte. Vielleicht hätte sie mit ihrer Reserviertheit auch noch die Schuld daran. Die Vorstellung gefiel ihr gar nicht.
Als Nathan nach Swallowbrook zurückgekommen war, hatte er behauptet, er wolle hier bleiben. Doch damals hatte er noch nicht damit gerechnet, neben einer Eisprinzessin zu wohnen.
Sobald alle Mitarbeiter im Büro des Praxismanagers versammelt waren, sagte Nathan: „Ich möchte euch nur schnell etwas mitteilen. Da ich fast zur selben Zeit hierher zurückgekommen bin, wie mein Vater sich aus der Praxis zurückgezogen hat, konnte ich noch kein Abschiedsfest für ihn veranstalten. Das möchte ich an diesem Samstagabend gerne nachholen, indem ich euch alle zu einem Essen in der Bankettsuite des neuen Hotels
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