JULIA COLLECTION Band 10
wie sonst im Bluffen gegenseitig zu übertrumpfen. Besonders Rico verhielt sich unheimlich zurückhaltend. Selbst wenn er ganz gute Karten hatte, erhöhte er den Einsatz nicht im sonst üblichen Maß.
Alles in allem schien das der langweiligste Pokerabend zu werden, den Charles je erlebt hatte. Stattdessen wäre er viel lieber bei Dominique geblieben und konnte das Ende des Abends kaum erwarten. Dummerweise war es erst zwanzig nach zehn. Na ja, wenigstens würden sie gleich eine Pause einlegen.
„Du bist dran, Charles“, erinnerte ihn da Ali. „Wir spielen noch eine Runde vor dem Essen.“
„In Ordnung“, sagte Charles, und Renée nickte. Auch Rico war einverstanden. Er wollte dieser Folter nur so schnell wie möglich entgehen und begann mit einem müden Seufzer, die fünf Karten aufzunehmen, die Charles ihm hingelegt hatte. Die erste war eine Herzdame, die zweite ein Herzbube. Als sich die dritte als Herzkönig erwies, begann sein Herz, wie wild zu schlagen. Das änderte sich blitzartig bei der vierten Karte, einem Herzas: Rico blieb fast das Herz stehen.
Du liebes bisschen!
Jetzt konnte er nur hoffen, dass seine letzte Karte ebenfalls ein Herz wäre, egal mit welcher Augenzahl, denn dann hätte er einen Flush – fünf Karten der gleichen Farbe. Sollte er eine Zehn aufdecken, wobei sogar die Farbe egal war, hätte er eine Straße – fünf Karten von verschiedenen Farben, aber mit lückenlos aufeinander folgenden Werten. Wenn es die Herzzehn wäre, hätte er ein Royal Flush, wofür die Chancen je Spiel bei eins zu fünfundsechzigtausend standen.
Bevor er die letzte Karte aufnahm, stieß er einmal kurz mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. Sofort sah Renée zu ihm, und Rico erwiderte unwillkürlich ihren Blick. Das war das erste Mal an diesem Abend. Nur als sie pünktlich um acht Uhr in Alis Präsidentensuite gekommen war, hatte Rico schon einmal zu ihr gesehen. In der feinen cremefarbenen Flanellhose und dem hellgrünen Twinset sah sie sexy und elegant zugleich aus.
Seit dem Fiasko vom vergangenen Sonntag hatte Rico beinah ununterbrochen an sie gedacht und sich überlegt, was er gegen seine beständig wachsende Frustration tun konnte. Heute Abend war er hergekommen, ohne diesbezüglich eine Entscheidung getroffen zu haben. Doch seine körperliche Reaktion auf ihren Anblick hatte ihm da weitergeholfen: Heute wäre das letzte Mal, dass er mit der „lustigen Witwe“ pokerte. Er würde auch aus ihrer Eigentümergemeinschaft aussteigen. Außerdem beabsichtigte er, Sydney zu verlassen und für eine Weile nach Übersee zu gehen. Von einem italienischen Fernsehsender hatte er ein Angebot erhalten, seine Kochsendung dem italienischen Publikum vorzustellen. Das wollte er jetzt tun, um sich nicht noch weiter in Renées Gegenwart zerfleischen zu müssen.
Doch auch wenn seine Entscheidung vernünftig war, stimmte sie ihn traurig und hatte ihn den Pokerabend bisher wie durch einen Nebelschleier erleben lassen. Aber die vier Karten, die er bereits auf der Hand hielt, sorgten einfach für einen Adrenalinstoß. Und als leidenschaftlicher Pokerspieler war Rico plötzlich wieder voll da und sah Renée an. Ihr Lächeln erstaunte ihn. War es als Entschuldigung gedacht oder so etwas wie ein Friedensangebot?
Nein, das wurde rasch klar. Dazu war es viel zu spöttisch. Bestimmt hatte sie seine plötzliche Anspannung bemerkt und wartete jetzt auf seine Reaktion, wenn er sich die letzte Karte ansah. Sie selbst hielt bereits alle fünf in der Hand und wusste über ihre Chancen Bescheid.
Ob es ihm gelingen würde, seine Reaktion in Schach zu halten? Schließlich bekam man nicht oft die Gelegenheit, eine Karte aufzunehmen, die einem die Möglichkeit auf ein unschlagbares Blatt bot.
Unschlagbar? Tatsächlich, die fünfte Karte war eine Herz-zehn. Während er versuchte, äußerlich ganz ruhig zu wirken, pochte ihm das Blut in den Schläfen, und sein Mund wurde ganz trocken.
„Willst du Karten tauschen, Rico?“, fragte Charles ein wenig ungeduldig.
Rico gab vor zu zögern, bevor er sich übertrieben entspannt zurücklehnte. Normalerweise reagierte er nicht so, wenn er ein gutes Blatt auf der Hand hielt. Damit wollte er seine Gegner verwirren, sie glauben machen, dass er nur bluffte. Sonst würden sie alle aussteigen, und er würde keinen Cent verdienen. „Danke, ich bleibe bei den Karten, die ich habe.“
Als Ali stirnrunzelnd zu ihm sah, erwiderte Rico seinen Blick mit einem Lächeln. Wie gern hätte er den
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