JULIA COLLECTION Band 11
nehmen.“
„Sie ist allerdings sehr emotional“, räumte Avis behutsam ein.
„Mutter ist reine Emotion, und es liegt in ihrer Natur, um die Vorherrschaft zu kämpfen.“
„Na ja, zumindest weiß ich jetzt, von wem du das hast“, neckte sie.
Er schmunzelte. „Du kennst meinen Vater nicht. Er war ihr in jeder Hinsicht ebenbürtig, und ob du es glaubst oder nicht, es war trotzdem eine sehr glückliche Ehe. Er hat sie wahnsinnig geliebt, und zu ihrem Leidwesen beruhte es auf Gegenseitigkeit.“
„Sie haben sich also gut verstanden?“
„Selten. Aber jeder war stolz auf die Stärke des anderen. Sie hat ihn immer ihren Löwen genannt, und selbst wenn er sie vor Zorn hätte erwürgen können, lag immer tiefer Stolz in seinen Augen. Er hat mir einmal gesagt: Eine Frau, die dich nicht bekämpft, ist es nicht wert, dass du um sie kämpfst.“ Er lächelte versonnen. „Ich verstehe das besser, seit ich dich kenne.“
Sie zog die Augenbrauen hoch. „Lucien, ich bin nicht so. Ich hasse Konfrontationen.“
„Aber du behauptest dich trotzdem. Du lächelst und senkst den Blick und weigerst dich, auch nur einen Zentimeter nachzugeben, bevor du nicht völlig überzeugt bist. Es ist furchtbar aufreizend und unglaublich liebenswert. Stärke hat viele Gesichter, Darling, und deine ziehe ich allen anderen vor, die ich bisher erlebt habe. Jetzt frühstücke weiter. Bestimmt steht uns noch eine unangenehme Szene bevor.“
Nicholas Tyrone bewohnte einen ganzen Flügel der Villa, falls ein so irdischer Ausdruck dem märchenhaften, palastartigen Gebäude gerecht wurde. Für alles waren getrennte Räume vorhanden: Kleidung, Spielzeug, Besucher, Unterricht, Krankenschwester, Kindermädchen, Therapeut.
Avis fragte nicht, welche Therapie er brauchte. Sie dachte sich, dass sie es früh genug erfahren würde.
Lucien öffnete die Tür zu einer kleinen Bibliothek. Ein kleiner Junge mit dichten blonden Locken saß an einem Tisch und hielt den Kopf über ein Bilderbuch gebeugt.
Eine pummelige Frau Anfang dreißig in geblümtem Hosenanzug sprang von ihrem Stuhl auf. „Oh, Mr. Lucien“, sagte sie erfreut. „Wir haben Sie nicht so bald zurückerwartet.“ Sie stellte sich Avis als Schwester Karen vor und beugte sich zu dem Jungen. „Nicholas, dein Vater ist hier.“ Als er nicht reagierte, richtete sie sich lächelnd wieder auf. „Er liebt dieses Buch, und deshalb gehört es jetzt zu unserem Belohnungssystem. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, hätte ich es ihm nicht gegeben, aber er hat heute Morgen sehr brav gearbeitet.“
„Harte Arbeit verdient Belohnung“, erwiderte Lucien. Er bedeute Avis, sich im Hintergrund zu halten, während er sich seinem Sohn näherte. Neben dem Tisch hockte er sich nieder und brachte sich auf Augenhöhe. „Hallo, mein Sohn.“
Der Junge begann, sich zu wiegen, blickte flüchtig auf und lächelte. „Mein Buch.“
Avis reckte den Hals, um zu sehen, was ihn so faszinierte. Es war ein einfaches Bild von einem Jungen mit einem Ball.
„Was guckst du dir da gerade an?“, fragte Lucien.
Der Junge deutete auf verschiedene Stellen des Bildes. „Junge. Schuhe. Hemd. Socken, Hose. Ball. Baum. Gras. Himmel.“
„Sehr gut“, lobte Lucien. Er wartete einen Moment, und dann sagte er. „Ich habe jemanden mitgebracht.“ Er winkte Avis zu sich, und sie trat vor.
Nicholas hob mit einem Ruck den Kopf und schaute sie an. Dann irrte sein Blick wild durch den Raum, und er sprang von seinem Stuhl auf und hielt sich eine Hand an die Brust. „Nein!“, schrie er. „Ich will mein Buch!“
Lucien hielt ihn an beiden Armen fest. „Du kannst dir gleich wieder dein Buch angucken“, sagte er ruhig. „Sie ist nicht wegen dir hier. Sie ist meine Freundin. Ich möchte nur, dass du ihr guten Tag sagst. Okay? Wir wollen doch lernen, höflich zu sein, weißt du noch?“
Nicholas beruhigte sich, aber er hielt den Blick gesenkt.
„Avis, das ist mein Sohn Nico“, sagte Lucien.
Unsicher trat sie noch einen Schritt vor. „Hallo, Nico.“
Er reagierte nicht.
Lucien legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte nachdrücklich: „Sei ein höflicher Junge und sag Hallo.“
„Dräng ihn nicht“, bat Avis mitfühlend.
„Sag Hallo zu Avis“, beharrte Luc.
Schließlich schaute Nicholas sie mit dunklen Augen an. „Hallo“, sagte er recht freundlich.
Lucien umarmte ihn. „Danke. Jetzt kannst du wieder dein Buch anschauen.“
Eifrig setzte sich der Junge wieder auf den Stuhl, beugte sich über das
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