JULIA COLLECTION Band 20
sitzen, lief sie dauernd im Kreis herum. Ich habe nicht viel Ahnung von diesen Tieren, aber ich glaube, sie kann nicht gut sehen. Ständig ist sie irgendwo angestoßen.“
Später war Daisy überzeugt, dass sie sich genau in diesem Moment in Kell verliebt hatte. Rührend hatte er den Rest des Abends damit verbracht, sich um die kleine blinde Schildkröte zu kümmern. Unwillkürlich hatte Daisy sich gefragt, ob Egbert sich genauso verhalten hätte. Wäre ihm das Tier überhaupt aufgefallen?
Ungefähr drei Stunden später waren sie zurück nach Muddy Landing gefahren, nachdem sie die Schildkröte, die an Unterernährung und einer Augeninfektion litt, bei einem Tierarzt im Ruhestand in Elizabeth City abgegeben hatten.
„Nach so etwas fühlt man sich blendend, stimmt’s?“, fragte Kell leise, als sie auf den nächsten Highway abfuhren.
Das stimmte, doch Daisy fiel es mittlerweile schwer, die Augen offen zu halten. Der Stress der letzten Tage war wohl doch etwas zu viel für sie gewesen. „Hm.“
„Ein Glück, dass du diesen Tierarzt kanntest. Er sagte, du hättest als Kind oft auf einige seiner vierbeinigen Patienten aufgepasst.“
„Ja.“ Dr. Van war schon vor Jahren in den Ruhestand gegangen, doch er hatte sofort Daisys Vermutung bestätigt. Die arme Schildkröte konnte zu wenig sehen, um Nahrung zu finden, und sie wäre verhungert, falls sie nicht zuvor auf eine Straße gekrochen und überfahren worden wäre.
„Ist dir kalt?“ Kell drehte die Heizung auf, und ein warmer Luftstrom umgab Daisy. Sobald die Sonne untergegangen war, war es rasch kühler geworden.
Wahrscheinlich fuhr Kell zu schnell, aber Daisy fühlte sich zu wohl, um sich zu beschweren. Es lief leise eine CD, und Daisy gab sich der wohligen Wärme hin und schloss die Augen.
Das Nächste, was sie mitbekam, war, dass Kell sie aus dem Auto hob. Sofort war sie wach und fing an zu protestieren.
„Pscht! So müde, wie du bist, schaffst du es doch gar nicht die Stufen hinauf.“
„Was ist passiert? Wo sind wir? Lass mich runter, Kell.“
„Warum sollte ich?“
Sie wandte den Kopf und sah das riesige alte Haus mit den Türmchen und Erkern vor sich, in dem sie das letzte Jahr gewohnt hatte. „Warte, der Schlüssel.“ Sie suchte nach ihrer Umhängetasche.
„Den habe ich schon.“
„Woher denn? Der ist in meiner Tasche.“ Und ihr Auto! O nein! Das stand ja noch auf dem Kirchparkplatz.
„Ganz ruhig, Daisy, lass uns nicht streiten. Ich habe nicht in deinen Sachen gekramt. Ich habe nur den Schlüssel aus der Handtasche genommen.“
„Aber mein Auto. Du hättest mich dort absetzen sollen.“
„Es wird sicher nicht gestohlen werden. Wir holen es morgen.“
Anscheinend hatte sie irgendwo auf dem Weg von Elizabeth City hierher ihren freien Willen verloren, genau wie ihr Rückgrat und ihren gesunden Menschenverstand. Sie fügte sich, ohne zu murren.
„Du bist ziemlich fertig, stimmt’s? Möchtest du gleich ins Bett, oder trinken wir noch etwas?“
„Ich will ins Bett“, sagte sie leise. „Oder lieber doch nicht.“ Hastig verdrängte sie das Bild eines nackten Pärchens, das gemeinsam Wein trank und dann aufs Bett sank. Daisy blickte in Kells Gesicht. „Vielleicht ein Glas Milch.“
„Gern. Warm oder kalt?“
Jetzt war Daisy hellwach. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn, ihr Körper war todmüde, aber sie war vollkommen wach. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Entscheide du, ich kann nicht mehr klar denken.“
„Dann trinken wir Kakao. Willst du dich nicht schon fürs Bett fertig machen, während ich ihn zubereite?“
Reglos stand Daisy da. Fast hätte sie gesagt: Vergiss den Kakao, und komm mit mir ins Bett, doch stattdessen sagte sie: „Wir haben kein Kakaopulver mehr.“
„Da lasse ich mir was einfallen. Wasch dich, kämm dich, zieh dir was Bequemes an, und dann sehen wir uns in ein paar Minuten wieder.“
Kell blickte ihr hinterher, bis sie am Ende des Flurs in ihrem Zimmer verschwand, dann ging er in die Küche. Im Auto hatte sie die letzte halbe Stunde geschlafen und bei jedem Ausatmen eine Art kleinen Seufzer von sich gegeben. Am liebsten hätte er angehalten und Daisy geküsst, aber weil sie so müde war, hatte er der Versuchung widerstanden. Seit Kell ihr begegnet war, arbeitete sie von früh bis spät, um das Haus in Ordnung zu bekommen und zurück in die Stadt ziehen zu können. Und dann halste sie sich obendrein auch noch dieses Box Supper auf. Hatten ihre Freundinnen denn keine Ahnung, wie erschöpft Daisy
Weitere Kostenlose Bücher