Julia Collection Band 62
werden. Der Mann beugte sich gerade noch näher über das winzige Baby, um es sanft die streicheln.
Die Bewegung brachte sein Haar in den Lichtstrahl der Lampe. Es war von einem reichen, glänzenden Braun, gerade lang genug, dass ihm einige lose Strähnen in die Stirn fielen.
Über eine seiner Wangen zog sich eine dünne Narbe, wie Suzanne beim Näherkommen feststellte. Nichts Dramatisches. Nur eine silbrig-weiße Linie. Es verlieh ihm allerdings etwas Exotisches. Ihr Blick wanderte über die Narbe hinweg zu seinem Mund, und sie erkannte, dass die Oberlippe ein klein wenig voller war als die untere.
Mein Gott, wer ist er, fragte sie sich wieder.
Während sie den vorletzten Brutkasten im Raum passierte, entschlüpfte ihr ein kleiner Ton der Unsicherheit und unguten Vorahnung. Das weckte schließlich die Aufmerksamkeit des Fremden. Er schaute auf. Als sich ihre Blicke begegneten, sah Suzanne das Aufflackern von Interesse in seinen blauen Augen. Keiner von beiden lächelte. Für einen langen Moment herrschte gespanntes Schweigen.
Die Art, wie er sie musterte, trieb ihr die Röte ins Gesicht. Was dachte er? Sein Blick hatte etwas Berechnendes an sich, so, als wären sie zwei Athleten, die vor dem Rennen ihre Kräfte maßen.
„Sie müssen Suzanne sein“, meinte er schließlich. „Ist das richtig? Josephines Halbschwester?“
„Ich bin Jodies Halbschwester, ja.“
Ganz bewusst benutzte sie den Spitznamen ihrer toten Schwester, so, als wenn sie ihm damit klarmachen wollte, dass ihre Beziehung wesentlich enger gewesen war als alles, was ihn mit Jodie verbunden haben mochte.
„Ich habe allerdings keine Ahnung, wer Sie sind“, fügte sie nach einer Sekunde hinzu. Sein Englisch war fließend, doch es hatte unverkennbar einen Akzent. Terri hatte erwähnt, dass er erst seit wenigen Tagen im Land war. Woher kam er? Frankreich?
„Ich bin ihr Cousin. Jodies Cousin.“ Er betonte den Spitznamen, so, als wollte er zugeben, dass Suzanne diese Runde gewonnen hatte. Das zynische kleine Grinsen um seine Mundwinkel machte auch deutlich, dass es ihr letzter Triumph sein würde. „Unsere Väter waren Brüder.“
Vollkommen schockiert von dieser Enthüllung, klammerte sich Suzanne an ein Detail, das keinen Sinn ergab. Dr. Feldman hatte ihr gegenüber beiläufig erwähnt, dass Jodie Verwandtschaft in Europa besaß, doch das hatte vollkommen unbedeutend geklungen. Warum saß dieser Mann jetzt hier, neben Alices Brutkasten? Er war einen weiten Weg gekommen.
„Wenn Ihre Väter Brüder waren, dann müsste Ihr Name Rimsky sein“, bemerkte sie. „Aber Terri sagte, Sie heißen Serkin.“
„Genauer … oder vielmehr historisch korrekt … wäre Serkin-Rimsky“, gab er zur Antwort. Noch immer lächelte er keine Spur. „Unsere Väter haben sich für verschiedene Methoden entschieden, den Namen zu vereinfachen. In meinem Pass steht Serkin, doch ich werde von nun an den vollen Namen tragen.“
Es klang wie eine Drohung.
„Was wollen Sie?“, fragte sie misstrauisch.
Ihr wurde übel. Wahrscheinlich wollte er gar nichts. Aber sie war mittlerweile so sehr daran gewöhnt, dass die Leute Alice entweder wollten oder auch nicht, dass sie nur noch in diesen Kategorien denken konnte.
Ihre Mutter und deren neuer Ehemann Perry wollten Alice. Sie wollten das Treuhandvermögen, das die Kleine aufgrund von Jodies Testament erbte. Was sie nicht wollten , waren die gesundheitlichen Probleme, die häufig bei Frühgeborenen auftraten. Daher hatte ihr Interesse auch erst nach dem Bekanntwerden von Jodies Testament und der Verbesserung von Alices Gesundheitszustand eingesetzt.
Dr. Feldman, der derzeitige Vormund der Kleinen, wollte , dass das Mädchen zu engen Verwandten kam, die ihm eine intakte Familie mit zwei Elternteilen bieten konnten. Er wollte nicht , dass Suzanne das Sorgerecht zugesprochen wurde. „Obwohl ich Ihnen viel Sympathie entgegenbringe“, wie er betont hatte.
Unglücklicherweise war Suzanne nicht verheiratet, sie war auch nur eine entfernte Verwandte, und sie lebte in einem unrenovierten Apartment, das sie für die kurze Dauer von vier Monaten angemietet hatte. Bislang hatte sie noch nicht die Zeit gefunden, sich weiter einzurichten. Sie verbrachte viele Stunden im Krankenhaus und den Rest des Tages mit einem finanziell notwendigen Nebenjob in einer Bibliothek.
Und dabei hatte sie das Gefühl, dass sie der einzige Mensch war, der Alice zu sich nehmen wollte, weil er sie liebte. Sie hatte das kleine Mädchen in ihr Herz
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