Julia Exklusiv Band 238 (German Edition)
sich so verhalten hatte.
Was Jenny Sanderson betraf, so hatte Hanif einen Brief an Lucy weitergeleitet, in dem die Frau schrieb, wie leid ihr alles tue, was Lucy durchgemacht habe. Sie habe das Gefühl, aus einem bösen Traum aufgewacht zu sein, und sei überaus dankbar, dass sie nun wieder in England bei ihren Eltern war, die sie liebten und sich auf ihr Enkelkind freuten. Sie wolle nun noch einmal ganz von vorn anfangen.
Das wollte auch Lucy.
Nachdem sie das Haus zum Verkauf angeboten hatte, war sie als Nächstes zu einer Arbeitsvermittlung gegangen. Dieses Erlebnis hatte ihr aufs Neue die Augen geöffnet.
„Welche Qualifizierungen haben Sie?“, hatte die Frau gefragt, in deren Büro Lucy schüchtern eingetreten war.
„Überhaupt keine“, hatte Lucy betrübt geantwortet. „Ich habe überhaupt keine Erfahrungen und erwarte auch nicht mehr als den Mindestlohn. Wissen Sie, ich habe die letzten zehn Jahre für meine kranke Großmutter gesorgt …“
Doch noch während sie sprach, wurde ihr bewusst, dass sie lediglich wiederholte, was Steve ihr vor einigen Wochen gesagt hatte: dass sie keinerlei Chancen auf dem Arbeitsmarkt habe. Sie erkannte, dass er damit nur versucht hatte, ihr Selbstbewusstsein zu zerstören und sie noch stärker an sich zu binden.
„Streichen Sie das“, sagte sie der Frau. „Ich habe ein Abitur mit hervorragenden Noten gemacht und in den letzten zehn Jahren einen Zweipersonenhaushalt mit einem Minimum an finanziellen Mitteln geführt. Darüber hinaus habe ich Erfahrung im Umgang mit allen möglichen Behörden, spreche Französisch, etwas Italienisch und lerne zurzeit Arabisch. Ach ja, und ich besitze einen Führerschein.“
„Französisch?“ Die Frau lächelte. „Wie sieht es mit Ihren Computerkenntnissen aus?“
Lucys Selbstsicherheit schwand wieder. „Ich habe seit der Schule keinen Computer mehr benutzt.“
„Keine Sorge, Sie können heute Nachmittag an einem Kurs teilnehmen, in dem Sie auf den neuesten Stand gebracht werden. Vorausgesetzt, Sie können gleich morgen bei Ihrer neuen Arbeitsstelle anfangen?“ Die Frau lächelte erneut. „Sie werden übrigens deutlich mehr als den Mindestlohn bekommen.“
Innerhalb der nächsten Tage stellte Lucy fest, dass ihr gesunder Menschenverstand und ihre Hartnäckigkeit mindestens ebenso nützliche Eigenschaften waren wie ihre Fähigkeit, Fragen am Telefon in fließendem Französisch zu beantworten. Sie machte ihre Arbeit gut, und dieses Wissen erfüllte sie mit großer Befriedigung.
Jetzt fehlte ihr nur noch jemand, mit dem sie ihre Freude hätte teilen können.
Es gab in ihrem Leben eine große Lücke, und wie groß diese tatsächlich war, entdeckte Lucy an einem Abend, als sie von der Arbeit nach Hause kam und den Fernseher anstellte. Die Nachrichten hatten bereits begonnen, und es waren Bilder aus dem Gebäude der Vereinten Nationen in New York zu sehen. Am Rednerpult stand niemand anders als Scheich Hanif al-Khatib, der eine flammende Rede hielt. Er sah, so fand Lucy, wie ein Mann aus, dem die Welt zu Füßen liegt. Stark. Leidenschaftlich. Und voller Energie.
Lucy war an den Fernseher herangetreten und hatte die Hand auf den Bildschirm gelegt. Der Wunsch, bei Hanif zu sein, war so stark, dass ihr ganz schwindelig wurde.
Sie erinnerte sich wieder an ihren Abschied, an den Ärger, den sie verspürt hatte, und daran, wie er ganz zum Schluss noch etwas gesagt hatte, das sie wegen der Lautsprecherdurchsage aber nicht hatte verstehen können. Und plötzlich wusste sie, was er gesagt hatte: Ruf mich an …
Um ihm was zu sagen? Dass sie ihn vermisste? Dass sie ihn liebte?
Oder lief vielmehr alles darauf hinaus, dass sie ihn brauchte?
War sie immer noch auf der Suche nach einer stützenden Krücke?
Es stimmte, sie vermisste ihn, und sie liebte ihn. Aber bevor sie ihm sagen konnte, dass sie ihn brauchte, musste sie sich und ihm beweisen, dass der einzige Mensch, den sie wirklich brauchte, sie selbst war.
Sie bewarb sich um einen Studienplatz für Arabistik in London. Aus dem befristeten Job bei einem internationalen Finanzunternehmen war zwar inzwischen eine unbefristete Stelle geworden, aber Lucy hatte noch Größeres im Sinn. Mit ihren Sprachkenntnissen und einem Abschluss in Arabistik hätte sie die Möglichkeit, im Außenministerium zu arbeiten oder im diplomatischen Dienst.
Das wäre die Erfüllung eines Traums.
Um nicht ständig an Hanif zu denken, kümmerte sie sich als Nächstes um eine Angelegenheit, die sie schon
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