Julia Extra Band 0193
ja selbst, dass er jede Veränderung fürchtet, deswegen müssen Sie ihm unbedingt zu verstehen geben, dass Sie stets für ihn da sind, was immer auch geschieht, und dass Daddys Freunde und Freundinnen keine Bedrohung für ihn darstellen.”
Suchend glitt Callums Blick über ihr Gesicht. Er sah in ihre großen schönen Augen, nahm den sanften Bogen ihrer Lippen wahr, die klassische Struktur ihres schmalen Kopfes und die anmutige Haltung. Das Haar hatte sie streng zurückgekämmt und in einen Zopf geflochten, nur eine Korkenzieherlocke hatte sich gelöst und umspielte ihren schlanken Hals. Bevor er wusste, was er tat, strich er sie hinter ihr Ohr zurück. Die federleichte zärtliche Geste ließ Zoë erschauern. Nervös biss sie auf die Unterlippe und schaute ihm selbstvergessen in die Augen. Sie wusste nicht, was sie in diesem Augenblick hätte tun oder sagen sollen. Sie sah ihn nur an und wartete.
Callum zog die Hand zurück und sagte: “Ich muss wohl doch ein ernstes Wort mit ihm reden.”
“Ja, ich denke, das sollten Sie tun.” Sie stellte die Tassen ins Spülbecken und fragte, ob sie sich jetzt zurückziehen könnte.
“Selbstverständlich. Vergessen Sie aber nicht, dass morgen Ihr freier Tag ist. Millie kommt früh genug, um die Kinder in die Schule zu fahren. Schlafen Sie heute Nacht wieder in meinem Zimmer?”, fragte er.
“Wie bitte?”, fragte Zoë zurück.
“Ich wüsste gern, ob der Tischler heute hier war und das Fenster repariert hat.”
Einen kurzen Augenblick lang waren Zoë wilde Gedanken durch den Kopf gegangen. Sollte dies eine Einladung in sein Bett gewesen sein? Was um Himmels willen hätte sie denn sagen sollen, wenn er es tatsächlich so gemeint hätte? Obwohl er ihr Arbeitgeber war und sie ihn kaum kannte, wäre sie vielleicht gegen jede Vernunft versucht gewesen, Ja zu sagen. Doch sie schloss diesen Gedanken energisch aus.
“Nein, der Tischler war nicht da”, sagte sie.
“Typisch!”
“Ich nehme an, Sie bleiben vorerst im Gästezimmer. Oder wollen Sie tauschen?”
“Nein, als Gentleman überlasse ich Ihnen natürlich das Zimmer, wo es nicht zieht.”
Zoë bedankte sich und ging. Wenn ich ein Gentleman wäre, hätte ich die Nachricht von ihrem Freund auf dem Anrufbeantworter nicht gelöscht, dachte er und bekam ein schlechtes Gewissen.
Callum sah auf die Uhr und überlegte, ob er um diese Zeit noch Francis anrufen und ihm erzählen sollte, was sich hier tat.
Francis meldete sich. “Hallo, hier bin ich”, begrüßte ihn Callum. “Wir müssen miteinander reden.”
Währenddessen putzte sich Zoë die Zähne und machte sich fertig für die Nacht. Als sie vom Bad in ihr Schlafzimmer ging, hörte sie die leise Stimme von Callum.
6. KAPITEL
Zoë marschierte forsch durch das hohe Gras und ließ sich den Wind um die Nase wehen. Die Luft war bitterkalt. Dafür leuchtete der Himmel über ihr pfauenblau. Keine Wolke war zu sehen.
Als sie die Gipfel erklommen hatte, versank sie in der Betrachtung der Landschaft. Die Berge umschlossen schützend das Farmhaus, das strahlend weiß inmitten grüner Felder lag. Unbarmherzig wehte der Wind die weißen Blütenblätter von den Bäumen im Obstgarten. Sie setzte sich auf einen Felsen und ließ ihre Blicke schweifen. Hinter dem Haus floss ein kleiner Bach von den Bergen herab und wand sich links vom Hof durch ein Feld. Auf der rechten Seite konnte sie in der Entfernung die glitzernde Fläche eines Sees erkennen. Ob es Windermere war? Sie nahm den Skizzenblock aus der Tasche und wusste: Das Motiv war perfekt.
Gerade kam Millie aus dem Haus, um die Wäsche von der Leine zu nehmen. Sie war ein paar Jahre älter als Zoë. Ein stämmiges, hübsches Mädchen mit einer frischen Haut und lachenden braunen Augen. Zoë mochte sie auf Anhieb. Bei einer Tasse Kaffee hatte sie von ihr mehr über das Dorf erfahren als in all den Tagen zuvor. Unter anderem, dass Sally Fisher vor einiger Zeit ihren Mann verlassen hatte und Mutter von zwei Kindern war. Eins war im Alter von Kyle, das andere so alt wie Alice. Dass sie Callum als Ehemann Nummer zwei im Visier hatte, war ein offenes Geheimnis.
Mit schnellen, sicheren Strichen skizzierte Zoë das Bild von der Farm. Ihre Gedanken kreisten dabei um Callum und seine Beziehung zu Sally. Vielleicht brauchte er nur ein bisschen Abwechslung und Spaß in seinem Leben? Nach dem Tod seiner Frau war er durch harte Zeiten gegangen. Millie hatte ihr erzählt, wie glücklich Callum und seine Frau miteinander gewesen waren
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