Julia Extra Band 0198
Sie haben demnach Liam seit seiner Geburt ganz allein großgezogen?”
“Ja, und es gab nur eine Nacht, die wir nicht beieinander waren. Doch manchmal denke ich, es wäre vielleicht besser gewesen, wenn er bei Jake aufgewachsen wäre, da hätte er ein viel normaleres Familienleben gehabt … mit Geschwistern und einem vollzähligen Elternpaar …” In seinen dunkelsten Momenten fragte Josh sich, ob er nicht zu sehr an sich selbst dachte … und seine eigenen Bedürfnisse über die Liams stellte.
Ein instinktiver leiser Aufschrei des Protestes entfuhr Flora. Hatte sie sich nicht schon mit eigenen Augen davon überzeugen können, wie großartig Josh als Vater war? Von seiner Beschreibung her gefiel ihr sein Bruder, dieser
perfekte
Baumeister, überhaupt nicht. Der ließ wahrscheinlich keine Gelegenheit aus, Josh unter die Nase zu halten, wie erfolgreich er als Architekt war.
“Das ist grober Unfug!”, rief sie laut aus. Ihr entrüsteter Ton verdatterte Josh; verwundert schaute er in ihr vor Wut leicht gerötetes Gesicht. “Wenn Sie lediglich eine Nacht von dem Kleinen getrennt waren, können Sie nicht sehr weit weggelaufen sein”, sagte sie ganz ruhig und von der Logik ihres Argumentes überzeugt. “Und niemand würde von Ihnen erwarten, alles immerzu völlig richtig zu machen in Ihrer Situation, nach dem schrecklichen Schicksalsschlag, den Sie erleiden mussten.” Sie ergriff seine Hand und zog sie fest auf ihren Schoß.
“Nur weil Ihr Bruder eine hoch bezahlte Arbeit verrichtet und sich ein schönes Haus leisten kann, heißt das noch lange nicht, dass Liam bei ihm besser aufgehoben wäre; also reden Sie sich da bloß nichts Falsches ein. Sie sind ein großartiger Vater!”
Josh hätte an dieser Stelle erwidern können, dass sein Bruder die zuletzt genannte Feststellung sofort unterschreiben würde. “Meinen Sie das wirklich?” Josh genoss es richtig, von Flora so viel Zuspruch zu erfahren.
“Sie und Ihre Frau waren ganz offensichtlich sehr … Ich selbst habe solch eine Erfahrung noch mit niemandem gemacht”, gestand sie ihm leicht verlegen. “Ich weiß nicht, ob ich darüber jetzt glücklich oder unglücklich sein soll”, sinnierte sie getragen. “Ich kenne aber jemanden, der ebenfalls seine Frau verloren hat, und er …” Ihre Stimme wurde plötzlich brüchig, und sie schluckte schwer.
Josh starrte auf ihre Finger, wie sie um seine Hand gelegt waren, dann hob er den Kopf und schaute lange und tief in ihre blauen Augen. Sie waren leicht feucht und voller Mitgefühl und Wehmut.
“Ihre Eltern?”
Sie nickte. “Meine Mutter war ein ganz stiller Mensch. Man hätte gar nicht gedacht, dass so jemand eine so schrecklich große Lücke in jemandes Leben hinterlassen kann. Mir ging es aber so, aber noch schlimmer war es für meinen Vater. Er ist ein starker, verlässlicher Mann, der sich allen Dingen im Leben stellt. Ich vermute, genau das war sein Problem. Alle dachten von ihm, dass er mit der traurigen Situation schon irgendwie fertigwürde – aber genau das war nicht der Fall. Wenn ich doch nur … “
Plötzlich merkte sie, wie aufmerksam Josh sie gerade musterte. Flora musste sich räuspern und senkte den Blick, denn sie wollte ihm in diesem Moment nicht in die Augen blicken.
“Der Punkt ist, dass er eben nicht damit fertigwurde – aber Sie haben es geschafft und haben einen süßen kleinen Jungen großgezogen.” Ihre Bewunderung klang echt. “Sie sollten sich nicht immer gleich etwas vorwerfen, wenn Sie einmal etwas falsch gemacht haben, oder sich mit Selbstzweifeln quälen.”
“Ich kann das nicht weitermachen”, stöhnte er und sprang plötzlich auf die Füße. “Könnten wir dieses Thema nicht beenden?”
Flora war von dieser unerwarteten und seltsamen Reaktion ganz konsterniert. “Wie bitte …?”
“Sie sind definitiv nicht die Richtige …” erklärte er unvermittelt und in barschem Ton.
Die Worte stachen wie ein Messer in Floras Herz. Erst jetzt merkte sie, welches Thema sie da eigentlich angeschnitten hatte. “Oh! … Nun, das vereinfacht die Dinge, oder?” Plötzlich war ihr regelrecht übel angesichts dessen, wie sie da gerade aus heiterem Himmel eine endgültige Abfuhr erteilt bekommen hatte.
Ihr Verstand sagte ihr, dass sie sich glücklich schätzen sollte, dass er sie gerade davor bewahrte, womöglich einen schweren Fehler zu begehen. Denn wie sollte man unter dem Gefühl leiden, etwas verloren zu haben, wenn man dieses Etwas ja noch gar nicht besessen hatte?
Weitere Kostenlose Bücher