Julia Extra Band 0198
“Ryan, ich liebe meine Tochter von ganzem Herzen. Aber bei einem Teenager geht es immer um Leben oder Tod, ganz gleich, was es ist.” Sie zog eine Grimasse. “Gestern zum Beispiel wollte sie unbedingt ihr Lieblings-T-Shirt anziehen, aber es war nicht sauber. Sie war völlig außer sich und den Tränen nahe, behauptete, sie würde sterben, wenn sie es nicht jetzt, sofort”, Julia ahmte den aufgeregten Tonfall Kellys nach, “tragen könnte. Also, was habe ich gemacht? Ich habe noch schnell Waschmaschine und Trockner geladen, bevor ich zu Charlotte gefahren bin, um das Essen für die Party zu präparieren!”
Ryan hatte ihr nachdenklich zugehört.
“Ich versuche dir nur zu erklären”, fuhr sie fort, “dass ich solche Szenen mit Kelly jeden Tag durchmache. In dem Alter ist so etwas leider normal. In einem Moment ist sie himmelhoch jauchzend, im nächsten zu Tode betrübt. Du wirst sehen, sie wird es bald vergessen haben.”
Er schüttelte langsam den Kopf. “Ich glaube, in diesem Falle irrst du dich.”
“So?”
“Ich habe das Gefühl, dass es wirklich wichtig für Kelly ist, dass du dir diesen Jungen ansiehst. Wichtiger als jedes T-Shirt.”
Sie wusste, es war nur Ryans persönliche Meinung, trotzdem fühlte sich Julia als Mutter kritisiert. “Ach ja? Und wer hat dich für den Vater des Jahres vorgeschlagen?”, fragte sie bissig, bevor sie die beleidigenden Worte zurückhalten konnte.
Seine blauen Augen verdunkelten sich. Stumm sah er sie an. Julia hätte sich so gern für diese dumme Bemerkung entschuldigt, aber sie brachte die Worte nicht über die Lippen.
“Du hast recht”, sagte er schließlich tonlos. “Ich habe nicht die geringste Erfahrung, was Kindererziehung angeht. Wahrscheinlich sollte ich mich da raushalten.”
“Ja, wahrscheinlich.”
“Dann ist es wahrscheinlich auch besser, wenn ich jetzt gehe.”
“Wahrscheinlich”, wiederholte sie dumpf.
Sie erhoben sich beide, und Julia begleitete Ryan zur Tür.
An der Tür wandte Ryan sich noch einmal an Julia. “Warum willst du den Jungen nicht kennenlernen, Julia? Warum lädst du ihn nicht hierher ein, setzt dich mit ihm hin, redest mit ihm? Mehr will Kelly doch gar nicht.”
Mit steinerner Miene zog Julia die Haustür auf. “Weil das Mädchen erst vierzehn ist, deshalb! Sie ist viel zu jung, um schon einen festen Freund zu haben. Ich werde dieses Verhalten bei meiner Tochter nicht auch noch unterstützen!”
“Du hast doch selbst gesagt, dass es bei Vierzehnjährigen immer um Leben und Tod geht. Bis sie die Schule zu Ende gemacht hat, wird sie wahrscheinlich zwanzig feste Freunde gehabt haben. Darum dreht sich doch alles bei einem Teenager. Weißt du denn nicht mehr, wie es bei dir war?”
Sie krampfte die Hände zusammen, bis sich ihre Fingernägel schmerzhaft in ihre Handflächen gruben. Sie wollte, dass dieser Mann verschwand. Aus ihrem Haus, aus ihren Augen. “Sagtest du nicht, du wolltest dich da raushalten?”, fragte sie nur mühsam beherrscht.
“Na schön. Dann richte Kelly bitte meine Grüße aus.” Sein Ton war kühl und distanziert, auch als er fragte: “Steht unsere Verabredung für morgen zum Lunch noch? Cherry hat sich angekündigt.”
“Natürlich. Ich werde zu dir in die Kanzlei kommen”, gab sie ebenso eisig zurück
“Gut.”
Er drehte sich um, und die Tür schloss hinter ihm, noch bevor er den ersten Schritt auf die Verandatreppe gesetzt hatte.
Die Lifttüren glitten mit einem leisen Geräusch hinter ihr zu, als Julia am nächsten Tag mit einem Picknickkorb am Arm im fünften Stock des Bürogebäudes aus dem Aufzug stieg. Der dicke Teppich verschluckte ihre Schritte, während sie den langen Korridor zu Ryans Büroräumen ging. Alles war sehr elegant und nobel, Ryan hatte wirklich Geschmack bei der Wahl für seine Kanzlei bewiesen.
Das neue Messingschild auf der schweren dunklen Holztür blitzte ihr entgegen: “Ryan L. Shane, Rechtsanwalt”. Wofür das “L.” wohl stand …?
Zum Teufel noch mal! Was kümmerte es sie, wie sein zweiter Name lautete! Sie legte die Hand an den Türknauf und drehte. Das Vorzimmer war zwar fertig eingerichtet, aber niemand war anwesend. Ryan suchte noch nach einer Sekretärin.
Die Aussicht, mit Ryan zu Mittag zu essen, verursachte ein freudiges Flattern in ihrem Magen. Dabei sollte es ihr nach dem gestrigen Abend doch leichter fallen, sich gegen seine Wirkung auf sie zu wehren. Er hatte sich in die Beziehung zwischen ihr und Kelly eingemischt. Und er hatte
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