JULIA EXTRA BAND 0262
erzogen.
Spontan beschloss Lysander, das Essen nicht über die Gebühr auszudehnen, und, falls der alte Herr unerwartet doch noch seine Contenance verlieren sollte, Eleni einfach an die Hand zu nehmen und von hier zu verschwinden. Er würde für sie beide ein nettes Hotelzimmer buchen und morgen früh mit der Fähre auf ihre Insel zurückkehren.
„ Kalispera , Vater“, sagte er kühl.
„Wie ich sehe, hast du einen Gast mitgebracht, Lysander“, kam es ebenso kühl zurück. „Warum hast du deine Mutter nicht vorher darüber informiert?“
Eleni spürte sofort die aufkommende Spannung, selbst wenn sie kein Wort Griechisch verstand. Sie war hier nicht willkommen, so viel stand für sie fest. Warum hatte Lysander nur darauf bestanden, dass sie ihn begleitete?
Scheinbar gelassen stand er dicht neben ihr und zuckte achtlos mit den Schultern, doch unter seiner demonstrativ gleichgültigen Fassade konnte sie seinen wachsenden Unmut spüren. Eleni schluckte nervös und wünschte sich nicht zum ersten Mal, dass sie sich energischer gegen ihn durchgesetzt hätte.
„Sprich bitte Englisch, Vater. Meine Freundin ist mit der griechischen Sprache nicht vertraut. Und wenn du das Gefühl hast, dass wir beide euch zu viele Unannehmlichkeiten bereiten, musst du es nur sagen. In dem Fall gehen wir nämlich gleich wieder.“
Damit umfasste er Elenis Hand mit festem Griff. Alarmiert und verstört wegen seines harten Tonfalls schaute sie ihn an. Aus dem kurzen Schlagabtausch zwischen den beiden Männern schloss Eleni, das die Beziehung zwischen Vater und Sohn belastet war.
„Aber Lysander, mein lieber Sohn!“ Mit kraftvollen Schritten und ausgestreckten Armen kam Leonidas auf sie beide zu. „Was für einen Unsinn redest du da? Als wenn wir eine derart bezaubernde Begleiterin unseres Sohnes nicht an unserem Tisch unterbringen könnten! Es ging mir nur darum, dass deine Mutter erfährt, dass sie noch ein weiteres Gedeck auflegen soll. Du weißt ja, wie viel Wert sie darauf legt, alles perfekt vorzubereiten. Aber das soll uns jetzt nicht länger davon abhalten, einander vorgestellt zu werden“, endete er mit einem erwartungsvollen Blick auf die schöne Fremde.
Lysander trat einen Schritt zur Seite, wobei er Elenis Hand freigab, und schaute zunächst seinen Vater, dann seine Begleiterin ernst an.
„Vater, das ist Eleni. Wir haben einige Zeit zusammen auf der Insel verbracht. Eleni, das ist mein Vater, Leonidas Rosakis.“
Der alte Herr schob die buschigen Brauen zusammen. „Eleni? Aber das ist ein griechischer Name! Ich denke, Sie sind keine Griechin?“ Sein Englisch war flüssig und fast akzentfrei.
„Nein, ich komme aus England … London, um genauer zu sein.“ Eleni verspürte einen Anflug von Scham, weil sie ihre wahren Wurzeln verschwieg. Jedes Mal, wenn sie ihre gerade erst entdeckte Herkunft verleugnete oder einer Erklärung auswich, hatte sie das Gefühl, ihre unbekannte Mutter zu verraten.
Sie lächelte nervös, als Leonidas Rosakis ihre Hand ergriff und galant an die Lippen führte, wobei er sie für ihren Geschmack ein wenig zu scharf aus seinen eisblauen Augen musterte, die denen seines Sohnes so ähnlich waren.
„Nun denn, willkommen in meinem Haus, Eleni. Jetzt müsst ihr aber mitkommen und unsere anderen Gäste begrüßen.“
Drei Leute waren bereits in dem prächtigen Speisesaal versammelt, als Eleni ihn auf Leonidas Geheiß vor ihm und Lysander betrat. Eine attraktive Frau mittleren Alters in einem elfenbeinfarbenen Seidenkleid, das ihre immer noch bewundernswert gute Figur aufs Vorteilhafteste betonte, ein beleibter Mann gleichen Alters im Dinneranzug, mit einem Glas in der Hand, das wahrscheinlich einen exzellenten Scotch enthielt, und eine dunkelblonde, umwerfende Schönheit in einem aufregenden smaragdgrünen Abendkleid mit tiefem Rückenausschnitt.
Sie wandte sich um, als sie Leonidas’ sonore Stimme hörte, und heftete ihren Blick fest auf Eleni. Die fragte sich erneut, warum Lysander sie unbedingt ins Haus seiner Eltern hatte bringen müssen. Sie fühlte sich hier wie ein Fremdkörper.
Als Erstes erholte sich die Frau, die Eleni unschwer als Lysanders Mutter identifizierte, von ihrer Überraschung. Lächelnd eilte sie auf ihren Sohn zu und schloss ihn liebevoll in die Arme. Und dieses Mal verhielt er sich nicht so steif wie vorhin, als Leonidas ihm in väterlicher Jovialität die Hände auf die Schultern gelegt hatte. Stattdessen fasste er seine Mutter um die bemerkenswert schmale Taille
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