JULIA EXTRA BAND 0262
waren völlig durchschaubar gewesen, und auf diese Weise hatte sie sich um die wunderbare Möglichkeit gebracht, eine ganze Nacht mit ihm zu verbringen.
„Vielleicht bin ich nicht so eine gute Lügnerin wie ich dachte“, murmelte sie und schluckte den bitteren Geschmack salziger Tränen hinunter.
„Liebst du ihn?“
„Nein.“
„Ich stimme dir zu, Sorcha“, entgegnete ihre Mutter trocken, „du bist eine hoffnungslose Lügnerin.“
„Mum, ich liebe ihn nicht. Ich bin … es ist … kompliziert .“ Sie seufzte. „Ja, wir fühlen uns unglaublich zueinander hingezogen – aber er will eine Frau, die fügsam ist und sich allem unterordnet, was er will, wohingegen ich …“
Ihre Worte verebbten. Was war mit ihr? Was wollte sie? Die Dinge, die ihr einstmals so wichtig erschienen waren, hatten ihren Stellenwert irgendwie verloren.
„Ich bin eine unabhängige Frau“, erklärte sie schließlich mit einer Spur Trotz in der Stimme. Jemand, der niemand anderen brauchte. Doch etwas war passiert, obwohl sie es so heftig leugnete. Sie wollte und brauchte einen Mann, der ihre Gefühle nicht erwiderte.
„Hat er sich gemeldet?“
Sorcha schüttelte den Kopf. „Er hat Rupert angerufen, nachdem er von dem kleinen Unternehmerpreis erfahren hat, für den wir nominiert sind.“
„Nun, das sind doch gute Neuigkeiten, Liebling?“
„Ich schätze, ja.“
Natürlich war es ein Erfolg, dass sie für diesen Preis nominiert worden waren, und Sorcha freute sich für die Firma – besonders weil Rupert so glücklich war.
„Cesare hat mir das Selbstvertrauen gegeben, an mich und an die Firma zu glauben“, hatte er ihr ruhig gestanden.
Wie gut für Rupert, dachte Sorcha säuerlich.
Sie durchlebte die gewohnte Routine des Alltags und präsentierte der Welt nach außen hin die normale Sorcha Whittaker. Doch innerlich hatte sie das Gefühl, etwas nage an ihr und hinterlasse eine große, klaffende Leere. Hatte sie sich jemals gefragt, ob es überhaupt erneut möglich war, ihm gegenüber so tief zu empfinden wie damals als Teenager? Jetzt wusste sie, dass die Antwort eindeutig Ja lautete – aber sie hatte nicht mit dem Ausmaß an Schmerz gerechnet, mit der Sehnsucht, die durch nichts zu besänftigen war.
Kurze Zeit später erhielt sie vollkommen unvermittelt eine Einladung – eine steife, cremefarbene Karte mit goldener Schrift, die Sorcha zu einer Retrospektive von Maceo di Ciccios Arbeiten in eine renommierte Galerie an der Themse in London einlud.
„Gehst du hin?“, fragte Emma, die selbst Wochen nach ihrer Hochzeitsreise immer noch derart vor Glück strahlte, dass man es kaum ertragen konnte.
„Ich habe mich noch nicht entschieden.“
„Oh, geh schon hin, Sorcha – vielleicht hat er auch ein Foto von dir in deiner berühmten Schürze dort hängen!“
„Sehr witzig.“
„Und außerdem“, fügte Emma verschmitzt hinzu, „ist Cesare vielleicht auch dort.“
„Oh, sei doch endlich still“, fauchte Sorcha.
Aber es war tatsächlich möglich.
Lag es an der Möglichkeit, Cesare endlich wiederzusehen, dass Sorcha sich derart viel Mühe mit der Auswahl ihrer Kleidung gab und schließlich ein langes, verführerisches Kleid wählte?
Als sie nach London fuhr, schlug ihr Herz wie wild. Die Galerie war wunderschön – weitläufig, mit riesigen Fenstern und hellem Licht, das vom Wasser des Flusses reflektiert wurde.
Ausgestellt waren Bilder aus jeder Phase von Maceos Entwicklung als Fotograf. Düstere Schwarz-Weiß-Aufnahmen von den Hinterhöfen und Straßen einer Stadt, von der Sorcha annahm, dass es Rom war. Zahllose Fotos von den schönsten Frauen der Welt. Er war gut, dachte sie.
Genau genommen mehr als gut – was besonders deutlich wurde, als sie zu den Bildern kam, die schwierige Themen behandelten: Hunger und Krieg, natürliche und vom Menschen verursachte Katastrophen – Fotos, bei denen man gegen die Ungerechtigkeiten des Lebens protestieren wollte.
Und dann – vollkommen unerwartet und schockierend – stieß sie auf ein Foto von sich selbst. Es war kein Werbebild von ihr in Schürze, wie Emma geneckt hatte, sondern eine Nahaufnahme, die er gemacht hatte, als ihr nicht bewusst war, dass die Kamera auf sie gerichtet war.
Auf dem Foto blickte sie erschocken auf, ein Ausdruck der Verwirrung in ihrem Gesicht, ihre Augen wirkten groß und verloren – so als wäre ihr etwas äußerst Wertvolles entrissen worden. Sorcha wusste ganz genau, wann das Bild entstanden war: als sie gehört hatte, wie
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