JULIA EXTRA BAND 0273
richtig. Aber John gefällt es nicht, dass sie in der Vergangenheit wühlt. Er will, dass sie einfach die Gegenwart genießt. Das ist ganz schön egoistisch, findest du nicht?“
Stephanie schüttelte den Kopf. „Ich glaube, er hat nur Angst, sie könnte verletzt werden, indem sie feststellt, dass ihre leibliche Familie ihren Erwartungen nicht entspricht und sie schlimmstenfalls nur ausnutzen will.“
Ein harter Zug legte sich auf Daniels Mund. „Er hat Angst, dass sie ihm an den Geldbeutel wollen. Er will nicht, dass Louise ihm noch mehr Schwierigkeiten bereitet, als er sowieso schon hat.“
„Du bist so verbittert, Daniel. Sicher, John hat Fehler gemacht. Wer macht die nicht? Aber er liebt Louise. Und dich und Dominic würde er auch lieben, wenn ihr ihm die Chance geben würdet.“
Daniel rührte in seiner Schokoladensauce. „Wozu soll das gut sein? Anscheinend hat er es sich zur Gewohnheit gemacht, seinen Kindern wehzutun. Louise hatte ein Recht zu erfahren, dass sie adoptiert wurde. Und Dominic und ich hatten ein Recht auf einen Vater.“
„Natürlich. Aber das gehört der Vergangenheit an und die kannst du nicht ändern.“ Wie leicht das klang. „Aber die Zukunft kannst du mitbestimmen.“
„Meine Zukunft steht längst fest.“ Sehr überzeugt klang er jedoch nicht.
„Wünschst du dir keine Familie? Brauchst du keine Menschen um dich? Menschen, die dich lieben und für dich da sind, wenn du sie brauchst?“
Gedankenversunken schwieg er. Daniel brauchte seine Familie,dessen war Stephanie sich sicher. Und im Gegensatz zu ihr hatte er noch eine Chance. Weil sie beide eine schmerzhafte Kindheit hinter sich hatten, fühlte sie mit ihm.
Wem wollte sie eigentlich etwas vormachen? Sie fühlte sich ihm näher als irgendjemandem sonst in ihrem Leben, vielleicht abgesehen von ihrer Mutter, aber das lag lange zurück.
„Themenwechsel, okay?“, schlug er leise vor. „Mein Leben betrifft dich nicht.“
Und ob es das tat. Mehr und mehr, mit jedem Tag, den sie ihn kannte.
Das dunkle Restaurant, die heruntergebrannte Kerze und ihre Zweisamkeit führten zu einer Vertrautheit, in der persönliche Gespräche wie von selbst aufkamen. Und so erzählte er ihr mehr von seiner Vagabundenkindheit. Stephanie begriff die Einsamkeit, die hinter seinen lustigen Geschichten steckte.
Im Gegenzug erzählte sie ein wenig aus ihrer Kindheit, unverfängliche Geschichten und von ihrer früheren Arbeit in Aspen. Aber bestimmte Dinge konnte sie nicht ansprechen, nicht einmal vor Daniel.
Lange nachdem der Käsekuchen und die Schokoladensauce restlos aufgegessen waren, unterhielten sie sich immer noch angeregt. Stephanie ahnte, dass es entsetzlich spät sein musste, doch sie wollte noch nicht gehen.
Daniel lehnte sich über den Tisch, die Hände nur Millimeter von ihren entfernt.
„Erzähl mir von deinen Kunstklassen.“
„Sie sind wunderbar. Die Kinder …“ Sie sah ihn an. „Ich würde so gern glauben, dass ich ihnen helfen kann. Aber ich weiß es nicht.“ Manche von ihnen hatten noch viel Schlimmeres erlebt als sie selbst. „Ich möchte ihnen das Leben gern leichter machen und etwas für sie tun. Manchmal träume ich von ihnen und von den Dingen, die ihnen zugestoßen sind.“
„Was du tust, ist gut, Stephanie. Wirklich gut.“ Er berührte ihre Hand. „Wie bist du dazu gekommen?“
„Ich habe schon immer mit leidenden Menschen gefühlt. Wahrscheinlich, weil …“
Nun war sie zu weit gegangen.
„Weil was?“
Sich Daniel gegenüber zu verstellen, würde nicht funktionieren. Dafür beobachtete er die Menschen zu gut. Und sie hättesich ihm so gern anvertraut. Aber sie hatte Angst und suchte einen anderen Ausweg.
„Es gab da mal ein Kind, ein kleines Mädchen und Opfer eines Missbrauchs.“ Das innere Zittern schüttelte sie wieder mit aller Macht. Doch Stephanie gab ihm nicht nach. So viel konnte sie Daniel ruhig preisgeben. „Damals hätte ich jemandem davon erzählen müssen, aber ich habe es nicht getan.“
Unendlich sanft fragte er: „Warum nicht?“
„Sie hatte Angst, dass dann alles noch schlimmer würde. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.“ Und das wusste sie bis heute nicht. Das war das Schlimmste, die schlimmste Pein: zu wissen, dass sie es hätte beenden können. Doch sie war damals ein Kind gewesen.
Als habe er ihre Gedanken gelesen, fragte er vorsichtig: „Wie alt warst du damals?“
„Neun. Aber ich hätte es trotzdem jemandem sagen müssen.“
„Du warst noch ein Kind. Du
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