JULIA EXTRA Band 0281
wollte herauskommen. Was, wenn Marcos recht hatte? Konnte sie als Aziz’ Frau Nicole wirklich dauerhaften Schutz versprechen?
„Tamsin …“, hörte sie Aziz’ singende Stimme von der Straße her rufen. „Ich weiß, dass du in der Nähe bist, ma petite. Hat er dich in seiner Gewalt? Keine Angst, wir werden dich finden. Wir finden euch beide …“
Erste Sonnenstrahlen drangen durch das dunkle Grün der Orangenbäume. Zwei der Männer waren so nah, dass man das Brechen der trockenen Zweige unter ihren Schuhsohlen hören konnte.
Selbst wenn sie nicht schreien würde, blieb ihnen nicht mehr viel Zeit. Aus den Augenwinkeln sah Tamsin, wie Marcos ganz langsam sein Handy aus der Tasche zog.
„Reyes?“, formte sie lautlos mit den Lippen.
Marcos nickte und runzelte die Stirn, während er mit klammen Fingern versuchte, eine SMS zu tippen. Tamsin legte ihm eine Hand auf den Arm und schaute ihm eindringlich in die Augen. Er zögerte nur einen Sekundenbruchteil, dann nickte er und reichte ihr das Handy. Sie hielt es so, dass er den Text lesen konnte, den sie verfasste. Als er erneut nickte, sandte sie die SMS ab und schloss das Handy mit einem leisen Klick.
Inzwischen waren die beiden Männer noch näher gekommen. Plötzlich bellte Aziz einen für sie unverständlichen Befehl, worauf die anderen Männer sofort dem Weinberg den Rücken kehrten und ebenfalls auf die Orangenplantage zusteuerten.
Was mochte er gesehen haben? Hatte sie vielleicht irgendetwas verloren?
Tamsin schaute an sich herunter und sog scharf den Atem ein. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihr rechter Fuß voller Blut war. Sie hatte den Schnitt zwar bemerkt, aber ihre Füße waren so taub, dass sie nicht gefühlt hatte, wie tief er war. Ihre Blutspuren würden Aziz und seine Leute zu ihnen führen …
Instinktiv griff Tamsin nach Marcos’ Hand und presste sie auf ihr Herz. In diesem Augenblick konnte sie nur daran denken, dass sie nicht von Aziz gefunden werden wollte. Sie wollte an Marcos’ Seite bleiben und nicht akzeptieren, dass sie beide sterben sollten.
Er schaute auf ihren Fuß hinunter und folgte dann ihrem besorgten Blick. Auf seiner dunklen Wange mit den Bartschatten zuckte ein Muskel. Er zog seine Hand zurück und stand langsam auf. Sofort wusste Tamsin, was er vorhatte.
Er wollte für sie kämpfen, aber sie würde es nicht zulassen, dass er sich für sie opferte.
Auch Tamsin erhob sich, reckte ihre Schultern und machte sich bereit, in die Richtung zu rennen, wo Aziz’ Männer nach ihr suchten. Doch Marcos hielt sie mit hartem Griff zurück und schüttelte den Kopf.
„Aber das ist der einzige Weg, um dich zu retten …“, wisperte sie kaum hörbar.
„Nein.“
Einer der Männer hob lauschend den Kopf. Und dann überstürzten sich die Ereignisse. Von der Straße her erklang plötzlich das laute Röhren eines starken Motors, das immer näher kam. Dann hörten sie Aziz auf Französisch fluchen und wilde Befehle brüllen. Und während seine Männer einen hastigen Rückzug antraten, fielen erste Schüsse. Danach herrschte beängstigende Stille.
Drei große schwarze Limousinen tauchten wie aus dem Nichts auf. Eine blockierte den Lieferwagen, während die anderen beiden so parkten, dass ihre Scheinwerfer in Richtung Plantage zeigten.
„ Patrón!“, erschallte Reyes’ kräftige Stimme. „Es ist vorbei, wir haben sie in die Flucht geschlagen!“
Marcos rief eine Antwort zurück, und Tamsin fühlte sich so erleichtert und schwach, dass sie taumelte. Doch ehe sie fallen konnte, wurde sie von einem starken Arm gehalten. Ihr ganzer Körper schmerzte, und jetzt fühlte sie auch den hässlichen Schnitt unter ihrem Fuß.
„Tut mir leid“, murmelte sie. „Ich wollte dir nicht wehtun, und ich wollte nicht weg von dir … aber meine kleine Schwester …“
„Schon gut, querida“, murmelte er. „Alles wird gut.“ Sanft hob er sie auf den Arm und hielt sie fest an seine Brust gedrückt, während er sich auf den Weg zur Straße machte. Tamsin war zu erschöpft, um zu protestieren.
Und dann standen sie vor Marcos’ rotem Ferrari, oder dem, was von ihm übrig geblieben war, nachdem Aziz und seine Männer ihre Frustration an ihm ausgelassen und ihn mit ihren Maschinengewehren durchsiebt hatten. Marcos starrte stumm auf die dünne Rauchfahne, die unter der Motorhaube hervorquoll, und Tamsin kamen die Tränen.
Nun wusste sie, wozu Aziz wirklich fähig war.
Marcos hatte recht, er war brutal und grausam. Aber wenn sie ihn nicht
Weitere Kostenlose Bücher