Julia Extra Band 0293
zugunsten von Straßenkindern in aller Welt.
Claire hatte das Gefühl, ein halbes Leben lang von zu Hause fort gewesen zu sein. Sie hatte sich verändert … oder war zumindest dabei, sich grundlegend zu ändern. Ja, sie fühlte sich stärker und unabhängiger als jemals zuvor. Und dabei sollte es in Zukunft bleiben!
Die Reise durch die Berge war wie eine Reise zu ihrem wahren Ich gewesen.
Das hatte nicht nur sie so empfunden, sondern auch ihre Weggefährtinnen Belle Davenport aus England und Simone Gray aus Australien. Auf den ersten Blick hatten sie drei wenig gemeinsam gehabt, abgesehen davon, dass sie Frauen und eigentlich unsportlich waren … aber alle drei waren sie zum Durchhalten entschlossen. Denn jede von ihnen hatte etwas beweisen wollen, sowohl sich selbst als auch ihren Mitmenschen, die dazu neigten, sie als vom Schicksal verwöhnte Geschöpfe abzutun.
Und jede von ihnen hütete ein Geheimnis, das sie bisher mit keinem Menschen geteilt hatte – bis sie eines Abends, erschöpft und zerschunden im Zelt hoch oben in den Bergen sitzend, den anderen unvermittelt ihre jeweiligen Wunden enthüllt hatten. Seelische Wunden, schmerzhafter als Blasen und Abschürfungen. Wunden, die seit Jahren nicht heilten.
Belles scheinbar perfekte Ehe und ihr luxuriöses Leben waren nur eine Fassade, die darüber hinwegtäuschte, dass sie eine trostlose Kindheit und Jugend verlebt hatte. Eine Zeit lang war sie sogar mit Mutter und Schwester obdachlos … sie war eines der Straßenkinder gewesen, für die sie sich nun engagierte. Nach dem Tod der Mutter war ihre kleine Schwester Daisy adoptiert worden, Belle hingegen musste sich als Teenager allein durchschlagen, was sie bravourös gemeistert hatte. Inzwischen zählte sie als Moderatorin einer äußerst beliebten Fernsehshow zur Londoner Prominenz. Nun war sie entschlossen, sich von ihrem reichen und attraktiven, aber emotionslosen Ehemann zu trennen und nach ihrer Schwester zu suchen, die sie seit deren Adoption völlig aus den Augen verloren hatte.
Simones Geheimnis war ebenfalls erschütternd. Als Vierzehnjährige hatte sie sich zwischen ihre Mutter und den betrunkenen Stiefvater gedrängt, der daraufhin die Treppe hinunterstürzte und sich das Genick brach. Ihre Mutter hatte die Schuld an dem Vorfall auf sich genommen, war ins Gefängnis gekommen und dort vor Verbüßung der Haftstrafe gestorben. Sie hatte Simone schwören lassen, niemals den wahren Sachverhalt zu verraten, und diese hatte sich aus Angst vor einem unbedachten Wort von ihrem Großvater völlig entfremdet, bei dem sie doch die glücklichste Zeit ihrer Kindheit verbracht hatte.
Verglichen damit ist mein Geheimnis wenig schockierend, sagte Claire sich. Es war eher beschämend. Zehn Jahre zuvor hatte sie geheiratet, nur um nicht länger unter der Fuchtel ihres herrischen Vaters zu stehen. Die Ehe war genauso zum Scheitern verurteilt gewesen wie ihr zaghafter Versuch, zu rebellieren. Dafür konnte sie aber nur sich selbst die Schuld geben!
Sie hatte Ethan wirklich gemocht. Manchmal hatte sie sich sogar gefragt, ob sie dabei wäre, sich in ihn zu verlieben. Er war ein fleißiger, höflicher und wortgewandter junger Mann, der sich für ihre Ansichten, ihre Ziele und Träume wirklich zu interessieren schien. Weder vorher noch nachher hatte jemand sie, Claire Mayfield, so ernst genommen … nicht einmal sie selbst.
Und das ließ ihr schäbiges Verhalten Ethan gegenüber noch schrecklicher erscheinen. Sie hatte ihn für ihre Zwecke benutzt, hatte ihn sozusagen gegen ihren Vater in den Kampf geschickt, einen Kampf zwischen David und Goliath. Diesmal hatte Goliath gewonnen.
Seither hatte sie von Ethan nichts mehr gehört. Sie war auch keine ernsthafte Beziehung mehr eingegangen, obwohl ihre Eltern ihr einen perfekten Ehekandidaten nach dem anderen präsentiert hatten.
Belle hatte gemeint, Claire wolle sich selbst bestrafen, indem sie allein blieb. Simone hatte es anders gesehen: Claire müsse erst einen richtigen Schlussstrich unter ihre Ehe ziehen, bevor sie sich an ein neues Leben wagen würde.
Ja, sie alle drei wollten sozusagen die offenen Kapitel ihres Lebens schließen. Als ihnen das klar wurde, trafen sie ein Abkommen: jede würde Wiedergutmachung an den Menschen leisten, denen sie Unrecht getan hatte, und dann einen neuen Anfang versuchen. Dass es kein sanftes Gondeln ins Tal, sondern ein mühsamer Aufstieg über steinigen Boden werden würde, war ihnen bewusst.
Für Claire bedeutete es, dass sie
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