Julia Extra Band 0293
gefangenen Barsch gab. Außerdem erstaunlich gutes Essen.
Im Sommer musste man einen Tisch wahrscheinlich Tage im Voraus reservieren lassen. Aber jetzt im November hatte Claire das Restaurant ganz für sich, nachdem ein älteres Ehepaar bezahlt hatte und gegangen war.
„Und wie gefällt es Ihnen hier?“, fragte die Kellnerin, als sie das Essen servierte.
Gar nicht, hätte Claire ehrlich antworten müssen, denn sie machte sich zum einen Sorgen, ob Ethan sich melden würde, zum anderen beunruhigte sie, was die Angelegenheit mit Simones Tagebuch ergeben mochte. Beides verschaffte ihr schlaflose Nächte.
„Die Landschaft ist wirklich großartig“, antwortete sie höflich.
Unter anderen Umständen hätte sie den Aufenthalt genossen und womöglich verlängert, so aber fand sie, es wäre besser, nach Hause zurückzukehren.
Beim Essen dachte sie über die neuesten E-Mails ihrer Freundinnen nach. Simone hatte berichtet, Ryan Tanner habe noch nichts wegen der Veröffentlichung des Tagebuchs unternommen, trotzdem war sie sich nicht sicher, ob sie ihm vertrauen durfte.
Belle hatte geschrieben, dass ihr Mann Ivo nun über ihre Vergangenheit als Straßenkind Bescheid wisse und sie von daher eine Veröffentlichung des Tagebuchs nicht zu fürchten brauche.
Simone hatte gefragt, ob Claire glaube, Ethan würde noch etwas für sie empfinden, da er so heftig auf ihr Erscheinen reagiert hatte.
Und ob er etwas für mich empfindet, dachte Claire. Ganz offensichtlich verabscheute er sie!
Belle hingegen wollte wissen, welche Gefühle Claire ihrem Exmann entgegenbrachte, und das war viel unbestimmter.
Noch wenige Tage zuvor hatte sie gemeint, sich auf das Treffen mit Ethan durchaus auch ein bisschen zu freuen, weil man ja immer eine gewisse sentimentale Bindung an den ersten Liebhaber verspürte.
Dann hatte er sie geküsst.
Das hatte nicht nur ihre Vergangenheit wachgerufen, es ließ sie vielmehr fragen, was sie von der Zukunft erwartete. Wo würde sie in einem Jahr sein, in zwei Jahren, in zehn? Wo und wie würde sie sein wollen? Beruflich und privat …
Die Tür ging auf und eine blonde junge Frau trat ins Restaurant. Als sie den Mantel auszog, war unverkennbar, dass sie schwanger war. Die Geschäftsführerin führte sie an einen Tisch ganz in Claires Nähe.
„Es wird allmählich kalt“, meinte Claire im Plauderton.
Die junge Frau rieb sich die Hände und setzte sich. „Ja. Fürs Wochenende ist sogar schon Schnee vorhergesagt.“
„In Chicago hat es angeblich bereits ein wenig geschneit. Übrigens, ich bin aus Chicago.“
„Ach ja? Mein Mann stammt ursprünglich von dort“, berichtete die junge Frau. „Wir kommen aber nicht mehr oft dahin, weil fast alle seine Angerhörigen mittlerweile in Michigan leben.“
Claire wurde es seltsam zumute. Diese Frau war doch nicht etwa …
Da kam die Kellnerin und zerstreute mit ihrer Begrüßung alle Zweifel. „Hallo, Mrs. Seaver. Schön, Sie mal wiederzusehen. Was möchten Sie trinken?“
Mrs. Seaver? dachte Claire empört. Erst gestern hatte Ethan sie so leidenschaftlich geküsst, dass sie sich seither nach weiteren Küssen und mehr sehnte, und dabei war der Schuft verheiratet?
Außer einem Schock verspürte sie nun auch noch Zorn.
Dass Ethan wieder geheiratet haben könnte, war ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Auf seiner Webseite war nichts davon erwähnt. Womöglich hatte er schon eine ganze Kinderschar, und nun war seine Frau wieder schwanger.
„Erwarten Sie noch jemand, Mrs. Seaver?“, erkundigte sich die Kellnerin.
„Ja, mein Mann müsste gleich da sein. Und mein Schwager wollte auch mitkommen.“
Das ist das Signal zum Aufbruch, sagte sich Claire. Sie war ja nicht feige, aber sie wollte hier nicht in eine unangenehme Situation geraten. Zwei Ehefrauen im selben Raum waren einfach zu viel für einen Mann.
Du bist nur seine Exfrau, meldete sich eine innere Stimme.
Das machte die Aussicht auf ein unbeabsichtigtes Treffen auch nicht angenehmer!
„Ich möchte bitte zahlen“, sagte Claire zur Kellnerin.
Diese reichte ihr den Bon und eilte weiter in die Küche.
Claire legte Geld für das Essen und ein ansehnliches Trinkgeld auf den Tisch, dann zog sie ihren Mantel über.
Bevor sie damit fertig war, wurde die Tür geöffnet, und Ethan kam herein.
Nun konnte sie sich vorstellen, wie ein Reh sich fühlte, wenn es auf einen Jäger stieß. Flucht war ihr erster Gedanke, der sich aber nicht verwirklichen ließ.
Zum einen hatte er sie schon entdeckt, zum
Weitere Kostenlose Bücher