Julia Extra Band 0294
sie. „Warum erfinden Sie nicht einfach einen Namen?“
Paolo widerstand dem Drang, sie am Kragen zu packen und einfach hinauszuwerfen. „Ich befasse mich mit Zahlen und Fakten, nicht mit Märchen. An den Namen einer realen Frau würde ich mich jederzeit erinnern. Einen ausgedachten hingegen könnte ich in Zeiten emotionaler Anspannung vergessen.“
Lily atmete tief ein. Offensichtlich war er fest entschlossen, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Nichts, was sie sagte, würde ihn davon abhalten können. Und das Eingeständnis, er fürchte, einen erfundenen Namen unter Stress zu vergessen, berührte sie tief. Die Gespräche mit seiner Mutter vor und nach der Operation würden emotional anstrengend werden.
Schulterzuckend gab sie nach. „Okay, ich bin einverstanden.“
„Absolute Verschwiegenheit?“
„Natürlich!“ Wie konnte er das nur fragen? „Ich möchte auch nicht, dass dieser Handel bekannt wird.“
„Und?“ Ihre offen zur Schau getragene Haltung, ihm moralisch überlegen zu sein, fiel ihm zunehmend auf die Nerven. Schließlich wollte er doch nur einer unheilbar kranken Frau eine Freundlichkeit erweisen. „Ihr Name? Lily wie?“
„Oh!“ Sie errötete. „Frome. Lily Frome. Möchten Sie sich das nicht aufschreiben?“
„Nicht nötig. Wie schon gesagt, vergesse ich Fakten niemals. Wie groß sind Sie?“
„Warum?“
„Madre wird mich fragen, wie Sie aussehen“, sagte er, als spräche er zu einem kleinen Kind.
„Einssechzig“, murmelte sie.
Daraufhin zog Paolo ein Scheckbuch aus der Schreibtischschublade und nahm einen Stift zur Hand.
Er reichte ihr den Scheck. „Große graue Augen, schmale Nase …“ Ein sehr sinnlicher Mund, dachte er. „Die Haarfarbe ist … caramella .“ Beinahe hätte er gelächelt, dann gewann seine Selbstbeherrschung wieder die Oberhand. „ Arrivederci , Lily Frome.“ Er zog einen Schlüsselring aus der Tasche seiner maßgeschneiderten Hose. „Ich muss mein Flugzeug erwischen. Miss Fleming ist hier irgendwo. Sie wird sich um Sie kümmern.“
Und damit ging er. Lily blieb zurück und starrte auf den Scheck über fünftausend Pfund. Sie kämpfte gegen das Gefühl der Unwirklichkeit an. Die Ereignisse der letzten zwanzig Minuten kamen ihr total verrückt vor.
Zwei Wochen später. Mittlerweile war es nach zehn Uhr. Gerade hatte Lily den letzten Fahrgast mit einem fröhlichen „Gute Nacht“ an der Haustür verabschiedet. Nun saß sie wieder auf dem Fahrersitz des Busses und stieß einen erschöpften Seufzer aus.
Es war ein langer, ein normaler Tag gewesen. Sie hatte diejenigen unter den alten Menschen besucht, die ihr Haus nicht mehr verlassen konnten, die Hausarbeiten für sie erledigt, mit ihnen Tee getrunken, geplaudert und Mr. Jenkins zu einem Arzttermin gefahren.
Die gute Sache war jede Mühe wert. Elf Senioren zum monatlichen Kartenspiel ins Sportzentrum von Market Hallow zu bringen und wieder zurückzufahren war zwar zeitaufwendig, doch die Freude auf den Gesichtern der alten Menschen zu sehen, wenn sie einander trafen, machte jede Minute zu etwas ganz Besonderem. Schließlich war es eines der Hauptziele von Life Begins, die Isolation und Einsamkeit von älteren Menschen zu überwinden.
Und dank Paolo Veninis großzügigem Scheck sowie einem Rekorderlös bei dem Basar konnte die Einrichtung ihre Arbeit weiterführen. Zumindest die finanzielle Krise war vorerst überwunden. Dennoch mussten sie über Anzeigen in den Kirchenblättern nach weiteren freiwilligen Mitarbeitern suchen. Sie und die beiden halbtags beschäftigten ehrenamtlichen Helfer konnten nicht alles alleine bewerkstelligen.
Lily schob ihre düsteren Überlegungen beiseite und fragte sich, wie es Paolos Mutter wohl ging und ob die Operation erfolgreich verlaufen war. Unvermittelt tauchte vor ihrem inneren Auge das Bild seiner attraktiven und unvergesslichen Gesichtszüge auf.
Er schmuggelte sich oft in ihre Gedanken – was vermutlich ganz natürlich war, wie sie sich dann immer wieder versicherte. Ohne sein seltsames Eingreifen hätte Life Begins wohl die Pforten schon längst schließen können.
Und das lag nicht daran, dass sie sich ein wenig in ihn verguckt hatte, wie Penny Fleming trocken festgestellt hatte, nachdem Lily sie mit Fragen nach ihrem Chef überschüttet hatte.
„Die meisten Frauen bekommen in seiner Gegenwart weiche Knie“, hatte Penny sie gewarnt. „Aber davon haben sie nicht viel. Er ist der Typ für Affären, nicht für Beziehungen. Nach einer gelösten
Weitere Kostenlose Bücher