Julia Extra Band 0295
Ölgemälde hingen jetzt neben den verträumten Landschaften eines sehr bekannten Künstlers, die so wertvoll waren, dass die Versicherung einen Zuschlag dafür verlangte. Duncan hatte auch ihre Werke versichert, als ob ein Dieb hier einbrechen würde, um einen originalen Reese zu stehlen.
Sie hatte ihn deswegen geneckt.
„Du bist genauso gut“, hatte er völlig ernst behauptet, während er die Bilder aufhängte.
Leider traf es nicht zu. Reese hatte schon vor langer Zeit eingesehen, dass ihr wahres Talent eher im Lehren lag als im Malen. Sie fand Freude und Erfüllung darin, jungen Menschen zu helfen, ihre eigenen Gaben zu entdecken und sie zu fördern. Lehren war ihrer Meinung nach ebenfalls eine Kunst. Trotzdem hatte Duncans bedingungslose Unterstützung sie gerührt. Selbst jetzt, während sie mit dem Finger über den Rand eines Rahmens strich, erinnerte sie sich an seine liebevolle Überzeugung, und ihre Augen wurden feucht.
Wie hatten sie dies alles zerstören können?
„So, das Foto ist fertig.“
Reese blieb mit dem Rücken zu Duncan stehen und blinzelte rasch die Tränen fort. Als sie sich umdrehte, waren ihre Augen trocken, und sie lächelte dankbar.
Kurz darauf hatte sie das Foto an alle Leute geschickt, die in ihrem E-Mail-Adressbuch verzeichnet waren.
„Dies ist unser Sohn!“ lautete die Unterzeile.
„Unser“ wegen des äußeren Scheins, redete sie sich ein. Offensichtlich stimmte Duncan ihr darin zu, denn er bat sie, das Foto ebenfalls an seine Familienmitglieder und Freunde zu schicken.
„Sie müssen es ebenfalls erfahren“, erklärte er und lehnte sich an die Kante des schweren Schreibtischs.
Er war so nahe, dass sie sein Rasierwasser riechen konnte, diesen frischen, dynamischen Duft, den er trug, seit sie ihn kannte. In Erinnerungen versunken, atmete sie tief ein.
„Reese?“
Reese merkte, dass sie blicklos in die Luft gestarrt hatte. „In Ordnung“, erklärte sie etwas zu scharf.
„Schließlich können wir das Kind nicht sechs Monate vor ihnen verbergen.“ Duncan klang ein bisschen verärgert.
„Nein, natürlich nicht. Wir haben genügend andere Geheimnisse zu bewahren“, erinnerte sie ihn unnötigerweise.
An diese Geheimnisse dachte sie, als Duncan eine halbe Stunde später seinen Wintermantel anzog und in Richtung Tür ging.
Wo gehst du hin?
Sie fragte ihn nicht und erkundigte sich auch nicht, wann er nach Hause zurückkehren würde. Und Duncan gab keine Antwort auf ihre unausgesprochenen Fragen, obwohl die Spannung zwischen ihnen beinahe unerträglich wurde.
Es war erst fünf Minuten nach sieben. Doch draußen war es längst stockdunkel. Die Straßenlampen waren schon vor einer Stunde eingeschaltet worden, ebenso die Gartenlaternen, die den Weg von der Veranda zur Einfahrt säumten. Reese stand am Wohnzimmerfenster, während Duncan mit dem Wagen auf die Straße bog. Sie ließ die Jalousien hinab und versuchte, den Schmerz in ihrer Brust einfach zu ignorieren.
Duncan erreichte das Haus seiner Eltern gerade rechtzeitig für die Cocktails nach dem Dinner in der Bibliothek. Das war eine alte Familientradition. Die Newcastles legten großen Wert auf Traditionen, und man hatte ihm beigebracht, diese nicht nur zu respektieren, sondern auch dafür zu sorgen, dass sie weitergeführt wurden.
Er hatte seinen Teil dazu beigetragen. Er war zur Harvard-Universität gegangen und derselben Studentenverbindung beigetreten wie drei Generationen der männlichen Newcastles vor ihm. Er gehörte dem Eliteklub an, den sein Ururgroßvater gegründet hatte, ein mächtiger Schiffsmagnat an den Großen Seen, und er war ins Bankgeschäft eingetreten wie sein Vater, sein Onkel und sein Großvater vor ihm, obwohl andere Gebiete ihn mehr interessiert hatten – besonders die Architektur.
Traditionen verliehen Stabilität. Sie waren das Band, das eine Generation mit der nächsten verknüpfte. Das hatte man ihm beigebracht, und das hatte man ihm stets geantwortet, wenn er einige starre Familienbräuche infrage stellte.
In Wirklichkeit hatte er schon lange den Verdacht, dass manche Traditionen ihre Wurzeln eher in Intoleranz, Gleichgültigkeit oder eindeutiger Angst vor dem Unbekannten hatten als in echter Treue zu vergangenen Dingen. Selbst bei den abendlichen Wodka-Martini seiner Eltern schien es weniger um entspannende Minuten nach einem harten Arbeitstag zu gehen als darum, die Sinne unmerklich zu vernebeln, um den langen Abend in Gesellschaft des anderen erträglich zu machen.
Nie hatte
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