Julia Extra Band 0295
war bereit, mehr als bereit für diesen Augenblick. Sie hatte beinahe sechs Jahre Zeit gehabt, um sich auf den Tag vorzubereiten – und weniger als vierundzwanzig Stunden.
In ihrer Handtasche befanden sich eine digitale Kamera mit frisch geladener Batterie und ein Notizbuch mit all den Fragen, die sie der Pflegemutter stellen wollte. Über ihrem Arm hing eine kleine Steppdecke, die sie im Jahr ihrer Hochzeit genäht hatte – lange bevor die Träume zu schmerzlich wurden, die mit jedem Stich einhergingen.
Sie hatte die Decke in einer Schachtel auf dem Dachboden neben dem verstaubten Gitterbettchen entdeckt und gestern Abend heruntergeholt und gewaschen. Während sie jetzt auf Duncan wartete, rieb sie den weichen Stoff zwischen den Fingerspitzen und stellte sich vor, sie streichelte ihr Kind.
Kurz darauf sah sie seinen Wagen ihre Straße hinabkommen und atmete erleichtert auf. Bei dem Verkehr, der um diese Tageszeit nicht sehr dicht war, würden sie jede Menge Zeit für die Fahrt durch die Stadt zur Agentur haben.
Ihre Erregung nahm wieder zu und vertrieb die Enttäuschung des vorigen Abends ein wenig. Duncan war kurz vor zehn zurückgekehrt und im Gästezimmer verschwunden, bevor sie ihn bitten konnte, das Gitterbettchen aufzustellen. Das hatte ihre „Hausaufgabe“ sein sollen, und er hatte völlig aufrichtig geklungen, als er versprach, ihr beim Zusammensetzen zu helfen. Einen kurzen Moment hatte sie sogar geglaubt, er hätte nicht nur von dem Bettchen gesprochen. Aber dann war er weggegangen.
Wie hatte er den Abend verbracht? Sie, Reese, hatte fast die ganze Zeit am Telefon gesessen und die freudige Nachricht ihrer Familie und ihren besten Freunden überbracht. Energisch hatte sie die unterschwellige Verzagtheit verdrängt, die ihre gute Laune zu ersticken drohte.
Als Erstes hatte sie natürlich ihre Eltern angerufen. Lächelnd fingerte Reese an der Jalousieschnur und erinnerte sich, wie sie die beiden davon abgehalten hatte, das nächste Flugzeug nach Detroit zu nehmen. Ihr Vater und ihre Mutter freuten sich riesig darauf, das Baby kennenzulernen, es zu halten und in ihre Familie aufzunehmen. Es war ihr erstes Enkelkind. Das Baby ihrer Schwester Rochelle wurde erst in zwei Monaten erwartet. Außerdem war der kleine Daniel ein wahres Wunder, hatte ihre Mutter immer wieder mit tränenerstickter Stimme erklärt, und sie, Reese, hatte ebenfalls zu heulen begonnen.
Als Nächstes hatte sie ihre jüngere Schwester angerufen, und ihr war erneut ganz warm geworden. Rochelle wäre ebenfalls am liebsten sofort von Boston nach Detroit geflogen, um das Baby zu sehen. Im Moment musste sie sich jedoch mit Fotos per E-Mail begnügen. Ihr Blutdruck war erhöht, und die Hebamme hatte ihr Flugreisen bis zum Ende der Schwangerschaft verboten.
„Vielleicht könnt ihr kommen, nachdem dein Baby da ist“, hatte Reese vorgeschlagen, tief Luft geholt und seufzend wieder ausgeatmet. „Daniel wird dann fünf Monate alt sein. Hättest du gedacht, dass unsere Kinder einmal beinahe gleich alt sein würden?“
„Nein, aber ich freue mich sehr darüber. Obwohl du mich nicht unbedingt überholen und noch auf der Ziellinie schlagen müsstest“, zog Rochelle sie auf.
Reese hatte leise gelacht. Leider war die Ziellinie noch längst nicht überquert, das war ihr klar. Sie lockte erst in der Ferne. Bevor sie den Sieg feiern konnte, stand ihr ein wahrer Spießroutenlauf bevor.
Zum Abschluss hatte Reese Sara Tucker angerufen. Sara war ihre beste Freundin und der einzige Mensch auf der Welt, dem Reese ihren Verdacht anvertraut hatte, dass Duncan eine Affäre haben könnte. Sie war auch der einzige Mensch, der wusste, dass er ausgezogen und wieder zurückgekehrt war, um der Agentur eine heile Welt vorzuspielen.
Nach ihrem Jubel über das Baby – Sara hatte das Foto schon heruntergeladen und fast eine Stunde vergeblich versucht, Reese telefonisch zu erreichen – fragte sie geradeheraus: „Wie ist es mit Duncan gelaufen?“
„Gut. Sehr gut sogar.“
„Wie findet er das Baby?“
„Ich glaube, es hat ihn total umgehauen“, antwortete Reese und erinnerte sich an den verwunderten Blick, der Duncans harte Züge gemildert hatte, und an seine zuckenden Mundwinkel. „Aber das ändert alles nichts. Er ist im Moment außer Haus“, fügte sie hinzu, um ihre naiven Hoffnungen zu vertreiben.
„Weißt du, wohin er gegangen ist?“, fragte Sara. Sie war nie völlig überzeugt gewesen, dass Duncan eine Affäre hatte.
„Nein. Ich habe ihn
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