Julia Extra Band 0295
seltsamen Grund fand er die nicht ganz getroffenen Töne ebenso liebenswert wie ihr schräges Lächeln. Im Augenblick schmetterte sie „Somewhere Over the Rainbow“.
Reese sang nur, wenn sie glücklich war. Plötzlich erkannte Duncan, dass sie es sehr lange nicht getan hatte – nicht mehr seit ihrer zweiten Fehlgeburt. Natürlich hatte er gewusst, dass sie unglücklich war. Das war einer der Gründe gewesen, weshalb er abends länger gearbeitet hatte. Er hatte keine Ahnung gehabt, wie er ihr helfen und ihre Lage erträglicher machen sollte.
Alles war noch schlimmer geworden, als sie ihre Behandlung einstellen wollte. „Wieder nach vorn schauen“, hatte sie es genannt. Sie hatte sich in psychiatrische Behandlung begeben oder einer Selbsthilfegruppe für unfreiwillig Kinderlose anschließen wollen. Und sie hatte ein Kind adoptieren wollen. Er, Duncan, hatte zum Schein mitgemacht, weil sie ihn darum bat, und versucht, ebenso viel Begeisterung für diesen Schritt aufzubringen wie sie. Es war ihm nicht gelungen.
Wie sollte es, wenn er unbedingt glauben wollte, dass ihre Situation nur ein böser Traum wäre, aus dem sie beide irgendwann erwachen würden.
Duncan hielt inne und betrachtete stirnrunzelnd sein Spiegelbild. Während er Reese singen hörte, wurde ihm plötzlich klar, dass einer von ihnen bereits aufgewacht war.
Entschlossen ging er zum Kinderzimmer und blieb auf der Schwelle stehen. Sein Herz floss beinahe über, während er zusah, wie Reese ihren Sohn auf dem Wickeltisch ankleidete.
Sie hatte ihm bereits ein Hemd und eine frische Windel angelegt. Keine leichte Aufgabe angesichts des strampelnden und sich windenden Babys. Gerade zog sie ihm einen kleinen marineblauen Pullover über den Kopf. Duncan war heilfroh, dass er dies nicht zu tun brauchte. Schon der Gedanken, das zappelnde Bündel in das winzige Kleidungsstück zu manövrieren, versetzte ihn in Angst und Schrecken, was umso absurder war, als er es furchtbar gern versucht hätte.
Reese hörte auf zu singen und fragte: „Wo ist Daniel denn? Wo ist mein süßes Baby?“ Als das kleine Gesicht wieder zum Vorschein kam, rief sie: „Da ist er ja wieder!“
Liebevoll beugte sie sich hinab und drückte einen schmatzenden Kuss auf seine Wange. Das Baby erwiderte die Liebkosung mit einem der zahllosen Lächeln und wedelte aufgeregt mit Armen und Beinen. Duncan hätte schwören können, dass er das erste Lachen hörte. Begannen Babys mit drei Monaten schon zu lachen? Er trat einen Schritt in das Zimmer, um besser sehen zu können und wenigstens für einen kurzen Moment dazuzugehören.
Reese steckte die wedelnden Arme geschickt in die Ärmel und schob die zappelnden Beine in eine winzige Kakihose. Als sie fertig war, hob sie das Baby auf und liebkoste seinen Hals.
„Das war nicht schlecht, Spatz, oder?“, fragte sie und klang sehr zufrieden mit sich. „Mir scheint, ich werde immer besser.“
Sie bekommt wieder Boden unter den Füßen, dachte Duncan. Die Unfruchtbarkeit und die Nörgelei seiner Mutter hatten ihr natürliches Selbstvertrauen untergraben. Doch es kehrte langsam zurück. Das machte sie in seinen Augen noch schöner – noch sexyer. Er schluckte trocken. Das hatte ihm noch gefehlt. Als ob die letzten Wochen nicht schon Folter genug gewesen wären.
Reese entdeckte ihn auf der Türschwelle, und ihr Lächeln erstarb. „Oh, hi.“
„Hi.“
Sie legte den Kopf auf die Seite und zog die Nase kraus. „Wie lange stehst du da schon?“
„Lange genug, um einen Teil deiner bühnenreifen Show mitzubekommen, Miz Garland.“ Lächelnd erinnerte er sich, dass er sie früher auch so geneckt hatte.
„Sehr komisch. Ich weiß, dass ich keine Melodie halten kann. Aber Daniel scheint es nichts auszumachen.“ Sie rieb den Rücken des Babys mit sanften kreisenden Bewegungen. „Stimmt’s, Spatz?“
„Er ist ein unfreiwilliger Zuhörer.“
Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, doch ihre dunklen Augen funkelten fröhlich. „Nein, er ist unvoreingenommen. Er liebt mich einfach so, wie ich bin.“
„Wie könnte man dich nicht lieben?“
Duncans Stimme klang etwas zu leise und zu ernst. Seine Antwort machte Reese nervös. Entschlossen setzte sie das Baby auf die andere Hüfte. Die Stille streckte sich endlos hin.
Schließlich fragte sie: „Möchtest du … möchtest du ihn einen Moment halten, während ich mein Make-up auflege?“
Nichts lieber als das.
„Nein, danke!“ Seine Antwort kam etwas zu schnell. Reeses Lächeln verschwand, und
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