Julia Extra Band 0299
„Eigentlich nicht. Aber als ich geboren wurde, hielten wir uns auch die meiste Zeit in den Bergen versteckt. Meine Mutter hat sich sehr um mich gekümmert. Meinen Vater habe ich nur ab und zu mal gesehen.“
„Schließlich war ja Krieg“, gab sie zu bedenken.
Mychale lächelte. „Gut, dass Sie mich daran erinnern.“
Bei seinem Lächeln wurde Abby ganz warm. Schnell verschwand sie in die Küche. Beim Aufwärmen einer Hühnersuppe rief sie sich die Vergangenheit in Erinnerung. Als Kind war sie der Fürstenfamilie oft im Dorf begegnet. Julienne und Gregor hatten hin und wieder Ausflüge in die Berge gemacht, um die Familie zu beobachten. Danach hatten sie immer viel zu erzählen gehabt. Abby waren die Montenevadas immer als eine ganz normale Familie erschienen.
Einige Male waren sie und Julienne auch bei der Fürstenfamilie eingeladen gewesen, um Mychales Schwester Carla bei offiziellen Empfängen Gesellschaft zu leisten. Sie waren beide sehr beeindruckt gewesen und mochten Carla sehr.
Julienne hatte allerdings auch Mitleid mit ihr. „Sie lebt hier wie im goldenen Käfig. Ständig muss sie sich bei jemandem abmelden, wenn sie irgendwohin will.“
Später erging es Abby und ihr nicht anders. Nach dem Tod ihrer Eltern lebten sie bei ihrem Onkel und standen praktisch unter Hausarrest. Auch Winona, die Frau ihres Onkels, die damals noch lebte, schien Angst vor ihm zu haben. Anfangs hatten Abby und Julienne rebelliert, doch Dr. Zaire hatte sie empfindlich dafür bestraft, und sie hatten sich gefügt.
Irgendwie hatte Julienne Mittel und Wege gefunden, das Haus unbemerkt zu verlassen und sich mit ihrem Geliebten zu treffen. Sie war fast im siebten Monat, als endlich jemand die Schwangerschaft bemerkte.
Abby füllte Suppe in ein Schälchen, das sie auf ein Tablett stellte, und brachte dem Prinzen die erste Mahlzeit nach seinem Zusammenbruch.
„Möchten Sie mal probieren, ob Sie etwas zu sich nehmen können?“
Mychale nickte. Plötzlich war er sehr hungrig. „Danke“, sagte er und sah auf, als sie ihm das Schälchen reichte.
„Gerne“, antwortete sie verlegen und ließ sich im Sessel nieder. Immer wieder blickte sie verstohlen auf die Uhr. Wo Gregor nur so lange blieb? Er hatte gesagt, dass er am Morgen nach dem Patienten sehen würde. Inzwischen war es Nachmittag. Was hatte das zu bedeuten? Stellte er Nachforschungen über sie an, weil er sich fragte, was sie im Chalet zu suchen hatte? Von Brianna konnte er jedenfalls nichts wissen. Wo, um alles in der Welt, steckte er?
Die heiße, herzhafte Suppe ließ Mychale wieder zu Kräften kommen. Unauffällig betrachtete er Abby. Sie glich einem Engel, wie sie dort im Schein der Nachmittagssonne saß. Und welch eine Ruhe sie ausstrahlte! In ihrer Gesellschaft konnte er sich entspannen. Vielleicht lag es daran, dass sie nichts von ihm wollte. Wieso waren eigentlich alle Frauen immer nur hinter ihm her?
Na ja, alle vielleicht nicht.
Er war sich seines guten Aussehens durchaus bewusst. Allerdings spielte auch sein Titel eine wichtige Rolle, da machte er sich nichts vor. Die Frauen waren verrückt danach, sich mit ihm fotografieren zu lassen und in den Klatschblättern zu landen.
Doch Abby sah ihn mit anderen Augen. Mit wunderschönen Augen, auch wenn sie meist ein wenig traurig wirkten. Irgendetwas bereitete ihr großen Kummer. Mychale nahm sich vor, der Sache auf den Grund zu gehen.
„Sagen Sie mal, Abby. Wer ist eigentlich Briannas Vater?“, fragte er, als er die Schüssel zurück aufs Tablett stellte. Er fing ihren erstaunten Blick auf und fügte hinzu: „Gregor ist es offensichtlich nicht.“
Nervös befeuchtete sie sich die Lippen. „Nein. Ich habe Gregor gestern zum ersten Mal seit zehn Jahren wiedergesehen.“
„Wer ist es dann? Und warum unterstützt er Sie nicht?“
Sie atmete tief durch und überlegte, was sie ihm erzählen durfte. Ein einziges Mal war sie Briannas Vater kurz begegnet. Julienne hatte darauf bestanden, dass sie ihn kennenlernte.
Damals lebten sie noch im Exil, ganz in der Nähe des Winterpalasts, wo die Fürstenfamilie residierte. Ihr Onkel bewohnte ein modernes Penthouse, das im dänischen Stil eingerichtet war – sehr kühl, sehr steril. Julienne hatte sich dort nie wohlgefühlt.
„Wir könnten ebenso gut im Kloster leben“, hatte sie sich beschwert. „Wann dringt das einundzwanzigste Jahrhundert endlich bis zu uns vor?“
Das war etwas ungerecht, denn sie genossen mehr Freiheiten als an all den anderen Orten, an denen
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